Kultur

Orientierungslos im Schneetreiben: Jan Meno Jürgens (mit neonfarbigem Pulli) als Hans Castorp. (Foto: Gabriela Neeb)

26.01.2024

Krank vorm großen Knall

Claudia Bossard gelingt am Münchner Volkstheater eine überzeugende Bühnenversion von Thomas Manns „Der Zauberberg“

So viel geraucht wurde lange nicht mehr in einer Aufführung. Aber wen wundert’s, schließlich spielt Thomas Manns Zauberberg, den das Münchner Volkstheater auf die Bühne bringt, in einem Schweizer Lungensanatorium: in einem Haus der ersten Kategorie, dessen deutscher Chefarzt über „lösliche Gifte“ schwa-droniert und selbst der größte Qualmer ist – im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Denn einen Hau haben sie alle, die hier versammelt sind, nicht nur die Schwindsüchtigen aus der Upperclass, sondern auch das schnoddrig-autoritäre Heilpersonal, das Thomas Mann so erhellend karikiert: Schließlich besteht die Krankheit eigentlich in den herrschenden Verhältnissen, und die Versuche, darauf mit Medizin oder Psychologie zu reagieren, sind automatisch zur Scharlatanerie verurteilt, weil sie demselben falschen Bewusstsein entspringen wie die Krankheit selbst.

Wohltuend respektlos

Dass man so einen 1000-Seiten-Wälzer nur dramatisieren kann, indem man wohltuend respektlos mit ihm umgeht, beweist Claudia Bossards Inszenierung: Ab und zu tutet eine Schiffssirene, weil der Held Hans Castorp (Jan Meeno Jürgens) ja angehender Schiffbauingenieur ist, und zwischendurch flitzen alle mit Tretrollern über die kahle schwarze Riesenbühne, wo selbst die reich gedeckte Tafel (es gibt Spaghetti mit Pommes) ganz hinten klein aussieht.

Die Figuren in heutigen Sportklamotten oder Leopardenleggings sagen nicht nur „potz Blitz“ und „sapristi“, sondern auch ganz unhistorisch „fuck“, oder sie erklären, „das ist der totale heiße Scheiß“. Wie sie ja überhaupt oft völlig überdreht und buchstäblich atemlos durcheinanderplappern, quasseln und faseln, bis man im Stimmengewirr kein Wort mehr versteht. Dass in dieser Aufgekratztheit ständig eine latente Bedrohung spürbar wird, liegt auch an dem rauchenden Feuerring, der über allem schwebt.

Der absolute Höhepunkt ist vor der Pause ein wahnwitzig durchgeknallter Sanatoriums-Rave: Die Akteur*innen dieser abendländischen Freakshow zucken zu dröhnenden Technobeats ekstatisch herum und tragen im Gänsemarsch einen Zinksarg über die Bühne, während gleichzeitig Hans Castorp seiner Angebeteten endlich eine Liebeserklärung zu machen wagt – und erfährt, dass sie am nächsten Tag abreist: „Voyage, Voyage – Voyage am Arsch!“

Überhaupt ist der Abend immer da am besten, wo er fast beiläufig ins Surreale, ja Absurde durchbricht, zumal im Kontrast dazu dann die ernsthaften und anrührenden Momente dieser Geschichte umso mehr Gewicht bekommen.

Trotz ihrer Dauer von fast vier Stunden, trotz einiger Längen gerade zu Beginn, und obwohl der Rhythmus stellenweise noch stolpert, ist Claudia Bossard eine grandiose Inszenierung gelungen. Eine Aufführung, die der Vorlage umso näher kommt, je weiter sie sich von ihr entfernt, weil sie gerade in ihrer hinreißenden Komik assoziativer Anverwandlung dem Geist von Thomas Manns Roman am meisten entspricht. Schließlich zielt die berühmte Ironie dieses großen Autors auf die zu seinen Zeiten schon anachronistische Gattung des Romans selbst, die er feiert und parodiert zugleich.

Wieder in die Katastrophe?

Bleibt die Frage, warum das Volkstheater diesen Stoff gerade jetzt aufgreift. Denn im Grunde ist der Zauberberg ein Dekadenzroman. Erzählt er doch von der geschwächten und „kranken“ Oberschicht der ausgehenden Belle Époque, die sich in Gebirgsregionen zurückzieht, in den morbiden Luxus einer Heilanstalt, während die breite Masse drunten in den Ebenen Europas schuftet. Bis alles fast unausweichlich im großen Knall des Ersten Weltkriegs endet. Soll die Aufführung also womöglich andeuten, dass diese Thematik wieder unerwartet aktuell ist und uns direkt etwas angeht? Das ist fast zu befürchten. Denn in Zeiten, da ein öffentlicher Empörungs-Tsunami ausbleibt, wenn ein Bundesminister allen Ernstes fordert, Deutschland müsse kriegstüchtig werden: In solchen perversen und kranken Zeiten sollte man mit dem Schlimmsten rechnen. Potz Blitz, kann man da nur sagen. Oder auch fuck! (Alexander Altmann)

 

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