Die Digitalisierung von Kulturgütern schreitet unaufhörlich weiter – das gemeinsame Erbe ist schier unerschöpflich. Was oft im Verborgenen verwahrt ist und – wenn überhaupt – nur äußerst selten oder nur mit großem organisatorischem Aufwand angeschaut und studiert werden kann, kommt plötzlich ans Licht und jedermann kann es sich aneignen, virtuell jedenfalls. Meist hat man in diesem Zusammenhang Digitalisate von Preziosen aus musealen Schatzkammern und Bibliothekstresoren vor Augen, auch Rundgänge durch Gemäldegalerien in Städten auf der Welt, in die es einen vielleicht nie verschlägt, sind beliebt.
Darin erschöpft sich aber nicht das Angebot. So haben – neben vielen privaten Einrichtungen – Archive und Universitäten Datenbanken voller Digitalisate von vielleicht weniger „ansehnlichem“, jedoch nicht minder interessantem und vor allem wertvollem Sammlungsgut. Dass vieles von diesem Kulturwissen aber auch im virtuellen Raum eine dunkle Existenz führt, liegt zum einen an zögerlichem oder tatsächlich juristisch begründetem Nichtpublizieren und beschränktem (zum Beispiel gebührenpflichtigem) Zugang.
Wie ticken User, die online Wissen sammeln?
Allerdings ist inzwischen, nachdem die Technik der Digitalisierung eine Alltagsherausforderung geworden ist, ein Punkt erreicht, an dem es nicht mehr allein um die Anhäufung von Daten geht, sondern auch um deren Nutzbarkeit – ganz so, als hätte man eine Bibliothek erst einmal mit Büchern gefüllt und erarbeite dann Benutzerordnung, Öffnungszeiten, Zugang etc. Ungenutzte Daten sind, vereinfacht gesagt, „tote“ Daten.
Die infrastrukturellen Mechanismen, die am realen Ort gelten, können allerdings nicht auf die virtuellen Wissensspeicher übertragen werden – dort gelten andere Nutzerstrategien. Wie „ticken“ die User, die vielleicht nie einen Fuß in eine Bibliothek oder in ein Archiv setzen, sich aber geradezu traumwandlerisch im Netz Wissen zusammensuchen? Wie müssen Digitalisate zur Verfügung gestellt werden, dass ihr Gebrauch so selbstverständlich wird wie der Gang zur Bibliothek?
Dort werden Veranstaltungen wie Lesungen, Wettbewerbe und Kunstaktionen durchgeführt, um die realen Räume und das dort präsentierte Wissensgut attraktiv und lebendig zu halten – muss man solchermaßen nicht auch das digitale Angebot vor einem Dahinsterben im „Netzkeller“ bewahren? Wie kann man das digitalisierte und originär digitale Kulturgut den Menschen ebenso emotional nahebringen, sodass es wie selbstverständlich benutzt wird?
Ein gewieftes Instrument, die Digitalisate zu blühendem Leben zu erwecken, sind „Hackathons“ wie Coding da Vinci. Der Begriff setzt sich zusammen aus „Hack“ (engl. Kniff) und „Marathon“. Nein, da werden nicht Datenbanken illegal gehackt/geknackt – vielmehr bieten Kulturinstitutionen bewusst den offenen Zugang zu ausgewählten digitalen Sammlungen oder digitalen Objekten. Mit diesen und zu einem konkreten Thema arbeiten auf eine bestimmte Zeit Teams, die sich interdisziplinär zusammengefunden haben – Entwickler und Designer von Soft- und Hardware ebenso wie Gamesliebhaber. Am Ende steht ein gemeinsames Produkt, eine Software-Entwicklung oder Anwendung.
Dinos Knochen in die Hand nehmen
Da hat zum Beispiel im vergangenen Jahr ein Dreierteam Skelex entwickelt. Auf der Basis von 3-D-Scans biologischer Sammlungsobjekte aus dem Museum für Naturkunde Berlin ist eine raffinierte Virtual-Reality-Anwendung entstanden: Man kann die Dinos & Co. nicht nur von allen Seiten betrachten, sondern auch anfassen, auseinanderziehen, einzelne Knochen in die Hand nehmen und vieles mehr.
Die Verbindung von Kunst und Wissenschaft findet man in einem weiteren Projekt, das ebenfalls mit Daten aus dem Berliner Naturkundemuseum jongliert: Dort wurden die Digitalisate von Insektenkästen bereitgestellt – aus ihnen kann sich der Nutzer eigene Kästen arrangieren, ganz nach persönlichen Vorlieben, sei es auch nur der Farbeffekte wegen. Das Ganze lässt sich als Poster ausdrucken. Bug-cruncher und wOgus heißen die Werkzeuge fürs Handling. Bug-feed versorgt via Twitter täglich mit einem Insekt samt Links zu Originaldaten und weiteren Angeboten.
Ein aufwendiges Projekt ist Berliner MauAR, das auf Fotos und Texten der „Stiftung Berliner Mauer“ basiert: Via Smartphone kann man Mauerteile an ihrem einst realen Ort virtuell wiedererstehen lassen, kann im 3-D-Raum um sie herumgehen, ihre Veränderungen im Laufe der Jahre verfolgen.
Spielen und entwickeln bei Kultur-Hackathons
Die drei Beispiele entstanden 2017 im Rahmen des regional durchgeführten Kultur-Hackathons Coding da Vinci, der 2014 ins Leben gerufen wurde – Initiatoren sind die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB), die Open Knowledge Foundation Germany e.V. (OKF DE), die Servicestelle Digitalisierung Berlin (digiS) und Wikimedia Deutschland e.V. (WMDE). Bislang haben in dieser Reihe gut 400 Teilnehmer mitgemacht, knapp 100 Kulturinstitutionen und Forschungseinrichtungen haben dafür digitale Daten zur Verfügung gestellt. Heraus kamen rund 70 digitale Anwendungen: mobile Apps ebenso wie interaktive Installationen, Augmented-Reality-Anwendungen und Hardware-Prototypen.
2019 kommt Coding da Vinci erstmals nach Süddeutschland. Zum Organisationsteam haben sich zusammengetan: die Bayerische Akademie der Wissenschaften, das Deutsche Museum, das Goethe-Institut, die Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen, die Münchner Stadtbibliothek, das Netzwerk Digital Humanities und (federführend) das Zentrum Digitalisierung.Bayern (ZD.B).
Aschaffenburger Archiv ist Vorreiter in Bayern
Das unterfränkische Aschaffenburg hat allerdings die Nase vorn, ist bayerischer Vorreiter: Das dortige Stadt- und Stiftsarchiv macht schon beim diesjährigen Kultur-Hackathon der Region Rhein-Main mit, ist sogar im Organisationsteam. In dieser Woche fand in Mainz ein Informationstreffen für interessierte datengebende Kultureinrichtungen statt. Ab Ende Oktober haben die Teilnehmer Zeit für ihre Projektentwicklungen, die Präsentation samt Preisverleihung findet am 1. Dezember statt.
Wer wird sich mit der Biographischen Datenbank Jüdisches Unterfranken beschäftigen? Was wird den „Hackern“ dazu einfallen? „Vielleicht kommt etwas Virtuelles zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus heraus“, überlegt Joachim Kemper. Er ist der Leiter des Stadt- und Stiftsarchivs, das die ehrenamtlich geführte Datenbank fachlich unterstützt. Auf jeden Fall wünscht er sich mehr Aufmerksamkeit für diesen einmaligen Datenschatz.
Die zuständige Archivarin Stephanie Goethals präzisiert die Erwartung Oded Zinghers vom Verein „Jüdisches Unterfranken – Biographische Datenbank e.V.“, dem es allgemein darum geht, Tipps zu bekommen, was Archivare tun müssen, damit Anwender per Mausklick möglichst unkompliziert an Informationen kommen. Abgesehen vom Webdesign, einer benutzerfreundlicheren Bedienoberfläche, für die Coding da Vinci vielleicht Verbesserungsvorschläge bringt, interessiert es Stephanie Goethals, ob die „Community“ auch konkrete Anwendungen austüftelt, die den Betreibern das Befüllen der Datenbank erleichtert. „Möglicherweise entstehen Ideen, dass und wie Inhalte vereinheitlicht oder zusammengeführt werden können. Das könnte die Arbeit der ehrenamtlichen Vereinsmitglieder ebenso vereinfachen wie die Recherche von Nutzern.“
Für Joachim Kemper stand außer Frage, bei Coding da Vinci mitzumachen. Für den seit Ende 2017 neu waltenden Leiter des Stadt- und Stiftsarchivs ist es eine weitere Facette des Prinzips „Offene Archive“; ein gleichnamiger Arbeitskreis hat sich im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V. (VdA) gebildet, Kemper leitet ihn. „Archive müssen viel mehr digital veröffentlichen, vorhandene Digitalisate zur Verfügung stellen. Das Netz ist eine zweite Realität geworden. Viele Menschen scheinen überwiegend dort zu leben. Wenn man dort nicht präsent ist, wird man auch nicht wahrgenommen. Wir müssen Archive breitenmäßig als Informationsquelle etablieren.“
Das hat auch gravierende inhaltliche Folgen: „Was der Kunde nicht im Netz findet, existiert für ihn auch nicht.“ Das öffnet dem „Fake“-Wissen Tür und Tor: Wer macht sich die Mühe und erscheint persönlich in einem Archiv, um Originalmaterialien eines Geschehens zu studieren? Bequemer und praktikabler ist die Recherche im Netz – oft allerdings stehen dort nur Sekundärquellen, wenn nicht noch weiter von der ursprünglichen Information abweichende Interpretationen zur Verfügung. Das Stille-Post-Prinzip feiert fröhliche Urständ.
Archivare gehören zur Wikipedia-Community
Was früher der Brockhaus war, ist heute Wikipedia – aller wissenschaftlichen Kritik und teils berechtigter Vorbehalten zum Trotz. Joachim Kemper hat mit dem viel geklickten Online-Lexikon so gut wie keine Probleme, eine Gegnerschaft gibt es für ihn nicht. Im Gegenteil: Er würde sich nur allzu gerne einen „Wikipedianer“ ins Boot holen, mehrere Monate lang quasi „in residence“.„ Wir könnten viel voneinander lernen.“
Eben noch mehr als schon beim örtlichen Wikipedia-Stammtisch: Wikipedianer sollen von Zeit zu Zeit das Archiv besuchen und aus erster Hand erfahren, was dort und wie es vor sich geht – umgekehrt machen sich die Archivare vertraut mit Arbeitsweisen, inhaltlicher Verbreitung und Nutzung in sozialen Medien, „vor allem auch, wie man mit den Kunden heute zeitgemäß in den sozialen Netzwerken kommuniziert.“ Joachim Kemper freut sich, dass inzwischen mehrere Wikipedianer „reale“ Archivnutzer geworden sind, also persönlich in den barocken Schönborner Hof kommen. Umgekehrt hat sich das Archiv mit einem Nutzeraccount in der Wikipedia-Community angemeldet. „Es gibt dort mehrere Hundert Beiträge über Aschaffenburg, darunter natürlich auch mit Bezug zur Stadtgeschichte. Wenn wir etwas entdecken, was nicht so ganz stimmt, dann korrigieren wir das eben selbst.“
Für Joachim Kemper sind Wikipedia und die Plattform Wikimedia „Partner mit viel Potenzial“ und der Kulturhackathon Coding da Vinci eine Art Türöffner – wiederum in beide Seiten. (Karin Dütsch)
• Allgemeine Informationen und Berichte vergangener Kultur-Hackathons: codingdavinci.de
• Näheres zum diesjährigen regionalen Hackathon unter Beteiligung des Stadt- und Stiftsarchivs Aschaffenburg:
codingdavinci.de/events/rheinmain
• Zu „Coding da Vinci Süd 2019“ in München:
zentrum-digitalisierung.bayern/initiativen-fuer-die-wissenschaft/bildung-wissenschaft-kultur/cdvsued
• Über den Arbeitskreis „Offene Archive“ im VdA – Verband deutscher Archivarinnen und Archivare e.V.: www.vda.archiv.net/aktuelles.html beziehungsweise archive20.hypotheses.org
• Stadt- und Stiftsarchiv, Wermbachstraße 15, 63739 Aschaffenburg:
www.archiv-aschaffenburg.de beziehungsweise stadtarchiv-aschaffenburg.de (Blog mit Verweisen auf Soziale Medien sowie – neu – WhatsApp-Chat des Archivs)
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