Kultur

Die Konzeptwand von Eitel, Fanta, Nasca Uno und Pyser lässt die verschiedenen Stile der Graffiti-Writer erkennen. (Foto: Reinhardt)

16.09.2016

Lizenz zum Sprühen

Die Donnersbergerbrücke in München verwandelt sich zur europaweit größten legalen Graffiti-Galerie

Gerade war Loomit da. „Cryptic2“ hat er gesprüht – es ist der erste poppigbunte Schriftzug auf der noch nicht einmal fertigen S-Bahn. Nein, eine Anzeige wegen Sachbeschädigung kriegt die Graffiti-Legende nicht, diese Zeiten sind vorbei. Im Gegenteil: Sein „Style“ samt Signatur adelt den Zug wie ein Gütesiegel. Der Zug ist ein „Background“ von Zement und Lando – sie haben noch Zeus, Island, Neon und Won eingeladen, sich ebenfalls auf ihm zu verewigen. Alle sind sie etablierte Koryphäen der Szene. „Cryptic2“ war der erste Künstlername von Loomit: Damit hatte er als 16-Jähriger 1985 schon einmal eine S-Bahn signiert – als „Geltendorfer Zug“ wurde sie bekannt: der erste Zug Deutschlands, der auf langer Fläche mit Graffiti besprüht wurde, illegal natürlich. Loomit war einer der zum Teil noch minderjährigen Täter – 4000 DM Strafe und 100 Sozialstunden hat ihn das gekostet. Blau-weiß war der Geltendorfer Zug damals, genau wie das erste Modell der Münchner S-Bahn, das nun auf einer Wand virtuell und inzwischen legal gesprüht braust – dahinter sausen die heutigen S-Bahnen in Rot und Weiß vorbei.

Farbe für den urbanen Unort

Der jetzige „Tatort“ ist die Donnersbergerbrücke, München: Lange Zeit war das ein düsterer, schmuddeliger urbaner Unort. Jetzt ist er vermutlich Europas größte Open-Air-Galerie für Graffiti. Und zwar für solche, die nichts mit flüchtig Hingekrakeltem zu tun haben, sondern künstlerisch gestaltete Bilder sind. Sie genießen inzwischen Wertschätzung als Teil der Street Art. Das ist ein Genre, das zunehmend nicht mehr nur als soziales, soziologisches Phänomen betrachtet wird, sondern auch von der Kunstrezeption beachtet wird. Das Kulturreferat München unterscheidet (aus einem Stadtratsbeschluss, 2014): „... Graffiti, das in erster Linie der Kommunikation innerhalb einer Szene dient ...“ und der Street Art als „ein vielfältiges urbanes Kunstgenre, das über das Arbeiten mit der Sprühdose hinausgeht, sich in die architektonischen Strukturen von Bauwerken einfügt und künstlerische Graffiti, Stencils, verschiedene Maltechniken bis hin zu Skulpturen und Installationen im öffentlichen Raum umfasst.“ Und wie sie sich einfügen, all die Characters, Pieces, Tags und Styles in die Donnersbergerbrücke! Riesengroß prangt da ein Bolzenschneider über den Radlständern, ein Mayahäuptling lugt gestreng um die Ecke, zwischen Phantasie-Hieroglyphen wuchert Dschungelgrün an der Betonwand. Ein wenig daneben schweben Weißwürste und Brezn im blauen Himmel mit seinen gutmütig lächelnden dicken Wolkenbergen, die Pilzlein gucken allerdings argwöhnisch: In diese putzige Bayernidylle (in Anlehnung an das Jump-and-Run-Spiel Super Mario) brechen gehässige und gefräßige Monster ein. Nichts wie weg aus diesem Horrorszenario – am liebsten wegdüsen wie das Cowgirl auf der Sprühdose, die einer Rakete gleicht.

In Wildstyles verlieren

Unter der Donnersbergerbrücke genügt es, sich umzudrehen – schon sieht man lustigere farbenfrohe Phantasiewesen, kann sich geradezu meditativ in einem virtuellen Rohr- und Leitungsgeflecht oder in zahlreichen grafisch aufwendig und raffiniert gestalteten Schriftzügen verlieren („Wildstyles“). Wie etwa in jenem von karma.exit, der einen Vers aus dem Song With hearts towards der polnischen Dark-Metal-Band Mgla gesprüht hat: „From the midst of cold ash comes the voice of the living god ...“ beginnt das Zitat – „der Satz beschäftigt mich seit über einem Jahr, da denkt man übers Leben und übers Sein nach“, sagt karma.exit, während er einen feinen Schatten um ein „t“ sprüht. Ja, meint er, sein Stil habe sich in jüngerer Zeit schon geändert. Früher habe er mehr „Characters“, also Figuren, gesprüht – jetzt experimentiert er mit der Kalligrafie und mit komplexeren Bildaufbauten. Er hat das mehrere Meter lange und gut zweimannshohe Kunstwerk an einer der Brückenrampen vorher auf Papier skizziert, „aber wie oft ich das dann hier schon übersprüht habe, weil’s dann doch nicht so gewirkt hat“ – man meint ihn seufzen zu hören. Um die Ecke herum steht bezeichnenderweise: „Kunst ist schön, macht aber auch viel Arbeit“ – dazu ein besonders schöner „Character“: Karl Valentin, von dem das Zitat stammt. Münchenbezüge lassen sich oft in den Arbeiten der rund 60 Graffitikünstler entdecken, die etwa 2000 Quadratmeter Fläche gestaltet haben. In dieser Galerie lässt sich gut ein Querschnitt durch die verschiedenen Stile der Graffitikunst studieren. Für die Auswahl hat Writers Corner München (WCM) gesorgt. Dieser lose Zusammenschluss kämpft für die legale Graffitikunst im öffentlichen Raum und hält gezielt Ausschau nach Flächen in der Stadt, die „gestaltungsbedürftig sind“, sagt Marco Reinhardt alias „Eitel“. Er ist einer der WCM-Organisatoren. Die Donnersbergerbrücke schrie regelrecht nach optischer Verbesserung – als WCM beim Münchner Baureferat anklopfte, gab es schnell das OK für eine farben- und motivfreudige Bemalung der Betonöde. Die Stadt führt seit über zehn Jahren Gestaltungsaktionen an vergleichbaren Orten durch: vor allem in Unterführungen, bekannt sind auch die Pfeiler der Brudermühlbrücke. „Wir müssen erst die Baubeschaffenheit prüfen“, erklärt Florian Valtin vom Baureferat das Prozedere, wenn Anfragen von Sprayern kommen. „Sichtbeton bereitet in der Regel keine Probleme, Klinker oder Naturstein dagegen schon.“ Auch müsse die baulich und optisch prägende Gestaltung des Bauwerks berücksichtigt werden, bevor es für Graffiti freigegeben würde. Noch eine Hürde ist zu nehmen: „Wir achten auf Referenzen, wollen ein Konzept sehen. Sex, Gewalt und Kommerz haben da nichts drin verloren. Ansonsten halten wir uns aus der künstlerischen Gestaltung raus.“ 2011 begann das Projekt Donnersbergerbrücke – derzeit läuft Teil vier, es ist der Abschluss: Die letzten Leerstellen werden besprüht, kaputte Pieces ausgebessert oder übersprüht.

Burner bleiben tabu

Ein kaputtes Graffiti: Regenwasser macht dem Sprühlack wenig aus, vor starker Sonneneinstrahlung sind die meisten Graffiti unter der Brücke ohnehin geschützt. Aber Auswaschungen und permanente Rinnsale haben dann doch dem Vorgänger-Graffito von Zement und Lando zugesetzt – jetzt ist es unter einer Deckschicht und unter dem neugesprühten S-Bahnzug verschwunden. Ein Graffito kann auch von anderen Sprayern kaputt gemacht werden – durch Drübersprühen. „Das Crossen machen aber keine Profis, das ist eher eine dumme Angewohnheit von Anfängern“, sagt Marco Reinhardt. Es gibt einen unausgesprochenen Ehrenkodex der Szene: Man weiß, was Anerkennung verdient („burner“), und an dem vergreift man sich nicht. Missgünstiger Vandalismus kommt „glücklicherweise nicht sehr oft vor“, sagt Marco Reinhardt. „Das ist dann Sachbeschädigung und wird als Straftat behandelt“, sagt Florian Valtin rigoros. An der Donnersbergerbrücke bleibt das ein „Ansich-Problem“. Als würde er eine riesige Tafel putzen, geht Eitel mit Farbrolle und leuchtend grüner Farbe über eine Wand. Er spart vorsichtig ein halbes Gesicht aus. Das hat Nasca Uno aus Berlin gemacht – der Rest der Crew, eben Eitel, Fanta und Pyser, vervollständigen das Bild. Pyser setzt dem Kopf einen Topf auf, in dem es nur so brodelt. Hände rühren darin herum und Blasen blubbern heraus, in ihnen sieht man zum Beispiel die Zeichen von Facebook und Twitter. „Die Blasen symbolisieren die Vergänglichkeit, da sie irgendwann platzen“, erklärt Pyser von der Leiter herab. Unter ihm geht Fanta mit kritisch abmessendem Blick hin und her: Er bearbeitet die unteren Ecken – sie sollen symmetrisch gestaltet sein.

Zeit ist Luxus

Gedankenverloren kauert derweil Eitel auf einem Gerüst: Als würde er eine Partitur schreiben, zieht er mit dem Pinsel und in unterschiedlich rhythmisiertem Schwung Linien in dunklerem Grün auf die Wand – ein kalligrafischer Gestus, der sich geheimnisvoll gibt: Sonst legt Eitel sehr großen Wert auf die Lesbarkeit und Formsprache seiner Buchstaben, „für den Hintergrund bei diesem Konzeptbild wäre es aber sehr störend gewesen, Wörter zu verwenden. Das hätte vom Hauptmotiv abgelenkt und die Wand wäre zu überladen.“ Er lässt sich Zeit – und die ist Luxus in der Szene: „Es ist doch toll, nicht bei Nacht und Nebel in wenigen Minuten illegal sprühen zu müssen“, sagt er. Faze 183 kommt zur „Crew“. Die Donnersbergerbrücke ist in diesen Tagen ein Szenetreffpunkt: Man schaut, was die anderen so machen „und redet schlau daher“, sagt Faze 183 lachend, um auch gleich seinen Senf zu Pysers Hand abzugeben: „Meinst du nicht, die könnte ohne Ärmel noch besser rüberkommen, so, wie eine Geisterhand?“ Man nimmt solche Anregungen von den „Altmeistern“ natürlich ernst – der Ärmel bleibt dennoch am Handgelenk, aber etwas verkürzt. Pyser gehört zur jüngeren Generation der Graffitikünstler Münchens – dem Mekka der deutschen Graffitiszene, wie man aus seiner Begeisterung heraushört. Er kam vor zwei Jahren aus Berlin. „Wir haben immer nach Bildern gegiert, um zu sehen, was in Sachen Graffiti in München abgeht.“ München, die Keimzelle des Graffiti in Deutschland – auch heute sind hier die Legenden zugange. Viele sind etablierte Grafiker, bekommen (bezahlte) Aufträge von privat oder von der Industrie: Audi hat sich von Graphism große Wände gestalten lassen – unter der Donnersbergerbrücke hat das Team auch mitgemacht. „Das sind lauter Platzhirsche“, schimpft ein Jungsprüher, der sich an der Donnersbergerbrücke im Hintergrund rumdrückt, weil er kiebitzen will, wie die „Kings“ arbeiten. Seinen eigenen Tag, seinen Künstlernamen, gibt er nicht preis – er ist meist illegal unterwegs: „Dem Nachwuchs bleibt ja gar nichts anderes übrig, wir kommen bei solchen Projekten nicht zum Zug. Aber irgendwo müssen wir doch auch üben.“ Marco Reinhardt erwidert: „Wir achten sehr darauf, dass eben nicht nur wir alten Hasen malen, sondern geben auch talentierten jungen Künstlern die Möglichkeit mitzumachen – sofern sie uns ansprechen und vertrauensvoll eine so große Fläche gestalten können.“
Eine einzige legale, freie Fläche gibt es in München, an der Tumblingerstraße. Das ist zu wenig für eine Graffiti-Hochburg. Im Münchner Kulturreferat diskutiert man in der Tat über zwei weitere Flächen, die der Szene frei zur Verfügung gestellt werden sollen.

Regensburg zeigt Flagge

Auch in anderen bayerischen Städten steht die Ausweisung legaler freier Flächen für Graffiti zunehmend auf der Agenda. Regensburg ist besonders aktiv, dort hat die Stadt mehrere Areale freigegeben: eine Reihe von Betonpfeilern an der Donau („24 Stunden Galerie“), die Pfeiler der Oberpfalzbrücke, Schallschutzwände bei einem Fußballverein, die Wand an einem Spielplatz. Pressereferentin Kristina Kraus zum Credo der Stadt: „Graffiti ist eine ernst zu nehmende Kunstform und soll als solche auch wahrgenommen werden.“ Und das impliziert, wie in den anderen Künsten auch, die Nachwuchsförderung – die in diesem Metier äußerst günstig wäre: Vielen Newcomern genügt es, (meist wenig ansehnliche) Betonwände zugewiesen zu bekommen. Eine Win-win-Situation, wie das (allerdings nicht „freie“) Projekt an der Donnersbergerbrücke zeigt. Dort gibt es sogar Geld aus der Stadtkasse, zumindest für die Farbdosen. „Das ist wirtschaftlich nachhaltig“, sagt Florian Valtin vom Baureferat, „der Reinigungsunterhalt wird an den gestalteten Flächen über Jahre reduziert“. Die Sprayer bekommen allerdings keinen Lohn. Die Flächen werden lediglich zur Verfügung gestellt, es besteht kein Auftragsverhältnis.

Sparkassen-Stiftung hilft

karma.exit versteht das zwar, fände eine Art Bezahlung dennoch gerecht: „Wir haben allein rund 400 Stunden in die Betonversiegelung investiert. Wenn die Stadt eine Firma damit beauftragt, kostet das ein Vielfaches von dem, was wir an Materialkosten bekommen.“
Gute Nachricht kommt von der Stiftung Straßenkunst der Stadtsparkasse München: Sie unterstützt jetzt die Umgestaltung der Donnersbergerbrücke. Marco Reinhardt: „Es ist nun das allererste Mal möglich, den Künstlern eine kleine Aufwandsentschädigung zu zahlen.“ (Karin Dütsch) Abbildungen (von oben)/ alle Fotos: Karin Dütsch:

"Cryptic2" steht als erster Schriftzug auf der neugesprühten S-Bahn von Zement und Lando. Es ist der urspüngliche Künstlername von Loomit. Subtile Warnung? Der riesige Bolzenschneider stammt von SatOne. Karl Valentins Zitat könnte als Motto über dem Graffiti-Projekt an der Donnersbergerbrücke stehen. Ausschnitt aus einer Konzeptwand, gesprüht hat ihn Trim.   Fanta in action. Eitel zieht seine kalligrafischen Linien mit Pinsel. Riesige Tier-Maschine von Graphism.

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.