Kultur

Das Festkonzert des Jewish Chamber Orchestra Munich unter Daniel Grossmann im Münchner Gasteig, bei dem vor allem der New Yorker Kantor Netanel Hershtik begeisterte, konnte das Publikum auch via Streaming verfolgen. (Screanshot: BSZ)

20.07.2021

Phantastische Vielfalt

Der New Yorker Kantor Netanel Hershtik begeistert beim Festkonhzert zu "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" im Münchner Gasteig

Hoffnung zu haben sei für ihn in München das wichtigste Erlebenis -  „hope“, sagte der New Yorker Kantor Netanel Hershtik, nahm seine Corona-Maske aus der Tasche und faltete sie als Einstecktuch für seinen Frack. Anschaulicher kann man die derzeit oft eher hoffnungslos erscheinende Situation kaum machen. Charlotte Knobloch hat in ihrem Grußwort zu diesem Festkonzert zwar ausdrücklich auch der Flutopfer gedacht – aber die 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland hat ganz andere Katastrophen durchlebt. Überall wird dieses Datum seine lange Folgezeit gefeiert, im Münchner Gasteig mit dem größten, einem „ganz besonderen“ (Knobloch) Konzert. „Alles, was wir heute mit deutscher Sprache, Literatur, Musik verbinden, alles typisch Deutsche ist in diesen 1700 Jahren entstanden – und mit jüdischen Beiträgen.“ Genauso wollen auch Daniel Grossmann mit Unterstützung seiner Eltern und mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich dieses Konzert in der nach Coronamaßstäben ausverkauften Philharmonie verstanden wissen. Grossmann hat es auch in Anlehnung an die wunderbaren jüdischen Neujahrskonzerte konzipiert (ebenso für ein Streaming-Publikum).

1700 Jahre zurück, da lässt sich jüdisches Leben an Rhein, Mosel, Main nachweisen, aber von Deutschland konnte da noch keine Rede sein, höchstens von Römischen Provinzen. Hebräisch wurde gesprochen, aber - 500 Jahre vor Karl dem Großen - nirgendwo noch Althochdeutsch. Trotzdem feiert die jüdische als Teil und mit der deutschen Bevölkerung: eine Kontinuitäten - denkt dabei auch an deren schreckliche Unterbrechungen.

Gefeiert wurde im Gasteig mit einem Konzert, das nicht wie sonst üblich mit solchen Kolossen wie Beethovens "Neunter" daherkommt, sondern mit Ernst und Leichtfüßigkeit zugleich: mit Offenbach, Kurt Weill und Gesängen aus der Synagoge. Daran könnte sich manches andere deutsche Festkonzert ein Beispiel nehmen. Auch an der Feingliedrigkeit, mit der Daniel Grossmann den ganzen Abend über dirigierte und deutlich machte, was an jüdischer oder jüdisch beeinflusster Musik so typisch und authentisch ist: die Lust an der Melodie, an der Stimme exzellenter Sänger und Kantoren, auch am Pomp aufwändig besetzter Finali. Das zeigte sich immer wieder an dieser Reise durch die deutsch-jüdische Musikgeschichte, an diesem Mosaik von Musik der letzten beiden Jahrhunderte.

So war es völlig richtig, das Festkonzert zu diesem Datum mit Offenbach zu beginnen: der war Deutscher, Franzose, immer auch Jude und ein Kantorensohn aus Köln. Das JCOM spielte die Ouverture zu „Die schöne Helena“, diese antike Travestie mit viel Gefühl fürs Leise-Lyrische, für Eleganz und Bläsergewitter. Klarinette, Oboe – auch hier schon das Lieblingsinstrument jüdischer Komponisten bis zu Gustav Mahler hin.

Auf seinen ursprünglichen Plan, Schulchöre und -orchester ebenso wie Musikschaffende der Münchner Stadtgesellschaft in dieses Konzert einzubeziehen, hatte Grossmann bei diesem ersten Live-Konzert nach langer Zeit verzichten müssen. Aber die Sopranistinnen Talia Or und Chen Reiss gestalteten Arien, Lieder und dramatische Szenen äußerst kompetent - das galt auch für so ganz unerwartet  gefühlsbetonte Puszta-Erinnerungen wie aus Emmerich  Kalmans „Gräfin Mariza“, wo es heißt „Glück ist ein schöner Traum“. Chen Reiss machte Musik von Fanny Hensel (geborene Mendelssohn) hörbar zu Vorgängern der Lieder von Richard Strauss („Die Mainacht“, op. 9/6).

Netanel Hershtik erwies sich als Idealbild eines Kantors, der weltweit in Synagogen und Opernhäusern singt: In der Münchner Philharmonie begeisterte er mit bravourösen Spitzentönen und zu dramatischen Bläserstimmen. Gebete oder Kapriziöses mit viel Wortwitz – immer hörte man grandiose dramatische Steigerungen von Kantoren/Komponisten, die in Amerika den Rang von Popstars haben: „Jewish music and culture is alive“, sagte Hershtik und sang als Zugabe Heiteres aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Und mit einer Träne im Knopfloch bewies Talia Or mit „Heute Nacht oder nie“ (Mischa Spoliansky), wie jüdische Komponisten die Musik der Roaring Twenties befeuert haben.

Ein wunderbarer Abend in seiner anregenden Vielgestaltigkeit – Hoffnung auf das nächste Neujahrskonzert. (Uwe Mitsching)

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