Kultur

Stundenlanges Liegen an der frischen Luft gehörte zur Kur in Davos (Bildpostkarte von 1906). (Foto: Dokumentationsbibliothek Davos)

07.05.2021

„Phantastischer Höllenort“

Eine Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg über den Aufstieg von Davos zum Kur- und Wintersportort der Promis

Ein „einfacher junger Mensch“ reist von Hamburg nach Graubünden: eine weite Reise „bergauf und bergab“ zum „Gestade des schwäbischen Meeres“ und „dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten“, liest man in Der Zauberberg (1924). Dieser „junge Mensch“ mit seiner krokodilledernen Handtasche heißt Hans Castorp und will seinen Vetter Ziemßen besuchen, der in Davos auf Kur ist. Und der Verfasser dieser Zeilen heißt Thomas Mann, der sich auch schon einmal, und zwar 1912, von Tölz aus auf den Weg nach Davos gemacht hat: zu seiner Frau, die an einer „übrigens nicht schweren Lungenaffektion erkrankt“ war. Nach zehn Tagen hatte er selber „einen lästigen Katarrh“. Drei Wochen blieb er in Davos – und begann dort am Zauberberg zu schreiben. Fertig wurde der als Novelle begonnene Roman allerdings erst viele Jahre später. Er erschien 1924.

Es muss für den Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, Daniel Hess, ein Schweizer, eine unwiderstehliche Versuchung gewesen sein, zusammen mit Davoser Museen, aus den Beständen seines Hauses und Hunderten von Leihgaben eine Ausstellung zu machen, die Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos heißt. Sie verbindet – üppig bestückt vom Rodelschlitten Marke „Davos“ bis zum nachgebauten Röntgenkabinett – Tourismus-, Sport-, Medizin-, Literatur- und besonders Kunstgeschichte.

Letztere fließt ein in Form von Gemälden, Holzschnitten und Skizzen von Ernst Ludwig Kirchner. Dieser lebte jahrzehntelang in Davos, hat sich als in Deutschland verfemter Künstler und aus Verzweiflung über den heraufdämmernden Zweiten Weltkrieg dort erschossen – in diesem „phantastischen Höllenort“ mit seiner Symbiose von „Tennysplätzen u. Friedhöfen, Confiserieen und Sarggeschäften“ (Hugo von Hofmannsthal).
Daniel Hess hat die Ausstellung und ihre sieben Stationen in ein authentisches Bergpanorama bauen lassen. Schon vor dem Eingang stehen aufgereiht blau bespannte Liegestühle. Sie laden zu den elf Stunden Liegekur pro Tag ein, die üblich waren. Die von Thomas Mann beschworenen „Schlünde“ des Graubündner Gebirges begegnen einem in Form eines der schönsten Kirchner-Bilder: Die Brücke bei Wiesen erinnert an den Anschluss des einstigen Bergdorfs Davos, wo nichts los war außer gesunder Ernährung und noch gesünderer Luft, an das europäische Eisenbahnnetz.

Mit Künstlern durch Davos

Claudia Parhammer, die im interdisziplinären Ausstellungsteam für das Kapitel Medizingeschichte zuständig war, kann viel und chronologisch über die Geschichte dieses Kurorts erzählen, wo ursprünglich niemand Tuberkulose hatte – wohl wegen der Ernährung mit reichlich Fleisch, Speck, Käse und Molke, auch der ammoniakhaltigen Luft in den Kuhställen wegen. Anhand von „Situationsplänen“ findet man sich in der Ausstellung gut zurecht zwischen den späteren Lungenheilstätten und dem „Curhaus“, wo auch Clara Schumann und Béla Bartók zu Gast waren und Albert Einstein seine Hochschulkurse abhielt.
Die Kofferaufkleber zeigen: Aus dem Curhaus wurde bald das Palace Davos, einer der Hotelpaläste, über deren Gäste man sich in den ausliegenden Davoser Blättern informieren konnte.

Die beiden Säulenheiligen der Nürnberger Ausstellung, Thomas Mann und Ernst Ludwig Kirchner, begleiten einen überall durch diese Schau: der eine mit touristischen Eindrücken und Zitaten aus dem Zauberberg, der andere mit den Impressionen der alpin-bäuerlichen Welt. An den Sanatorien war Kirchner weniger interessiert, eher am Leben in den Alpen oder am das Tal beherrschenden Tinzenhorn. Ganz im Gegensatz zum Künstlerkollegen Philipp Bauknecht, der dieses Bäuerliche eher als Bedrohung empfand: Er war Tuberkulose-Patient und hat auf seinen Bildern die eigenen Erfahrungen zwischen Krankheit und Gesundung bitterböse bebildert: mit verkrümmten Gliedmaßen, in expressiven Farben, in naturalistischer Drastik etwa bei einer Untersuchung auf dem Toilettenstuhl (1912).

Das war dann die andere Seite des Kurort- und Wintersportglamours, den Kirchner in seinen Skispringer- und Skijöring-Skizzen festgehalten hat. Die Corona-Pandemie, ihre Hekatomben von Toten und ihre Langzeitwirkungen geben der Ausstellung eine unerwartete Aktualität, machen dieses Davos, den einstigen Kurort Europas, noch eindrucksvoller.

Mehr als eine Fußnote ist die Erwähnung von Wilhelm Gustloff, der die Auslandsorganisation der NSDAP für die Schweiz aufbaute: Er kam wegen Tbc nach Davos, das die Hochburg der Nazis im Land der Eidgenossen wurde. Das Bild von David Frankfurter, der ihn 1936 erschossen hat, sieht man zum ersten Mal in einer Ausstellung. Frankfurter wurde 1945 begnadigt und wanderte nach Palästina aus.

Wie Thomas Manns Held Castorp wird man in dieser Ausstellung zur beziehungsweise zum Suchenden, Fragenden. Wie der Dichter Christian Morgenstern in den ersten Wochen strengster Davoser Bettruhe: „Wie soll das alles weitergehen, mit dem Leben und mit der Kunst?“ (Uwe Mitsching)

Abbildungen:
Nach dreijähriger Bauzeit war das Viadukt südlich von Davos fertiggestellt und verband Davon mit dem überregionalen Eisennbahnnetz. Ernst Ludwig Kirchner malte Die Brücke bei Wiesen 1926.    (Foto: Kirchner Museum Davos)
1918 erwarb der „Hilfsbund für deutsche Kriegerfürsorge in der Schweiz“ das Sanatorium Valbella, wo Kriegsversehrte genesen sollten. Zum Betrieb dieses Deutschen Kriegerkurhauses war man auf Spenden angewiesen. (Foto: GNM)
Das Werbeplakat von 1907 signalisiert den Wandel von Graubünden mit seinem berühmten Kurort Davos zur weltbekannten Wintersportregion.    (Foto: GNM)

Information: Bis 3. Oktober. Germanisches Nationalmuseum, Kartäusergasse 1, 90402 Nürnberg. Aktuelle Öffnungszeiten und Online-Veranstaltungen zur Ausstellung unter www.gnm.de

Begleitband: Daniel Hess (Hrsg.), Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 424 Seiten, 45,50 Euro. ISBN 978-3-946217-28-2

 

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