Kultur

Von Stockwerk zu Stockwerk - und zwar von oben nach unten - tauchen die Besucher tiefer ein in die Geschichte Münchens im Dritten Reich. (Foto: Jens Weber)

30.04.2015

Riesiges Geschichtsbuch

Die Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums: München, die einstige Hauptstadt der Bewegung, stellt sich seiner Geschichte im Dritten Reich

Dort, wo alles begann, in München, wurde jetzt, fast auf den Tag genau 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der Nazi-Diktatur, das NS-Dokumentationszentrum eröffnet. Ein Erinnerungsort, der Aufstieg und Fall des Dritten Reiches nicht nur dokumentiert, sondern sich auch als Lern- und Erfahrungsort versteht, der nachwachsenden Generationen die zunehmend in der Geschichte versinkende, freilich nicht aufgehobene Nazi-Herrschaft nicht nur vor Augen führen, sondern auch die Augen öffnen soll.
Mit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit, die man lange Jahre bewältigen und damit hinter sich bringen zu können glaubte, hat es in Deutschland lange gedauert. Vor allem in den Hochburgen des Nationalsozialismus, in den so genannten Führer-Städten wie München, Nürnberg und Berlin, tat man sich damit schwer – obwohl gerade dort die Relikte der Nazi-Herrschaft bis zum heutigen Tag nicht zu übersehen sind.

Von oben nach unten

Erst im Jahr 2001 wurde in Nürnberg, der einstigen Stadt der Reichsparteitage, wo alljährlich Hitler Heerschau hielt, das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände eröffnet. In Berlin folgte 2010 die Dokumentationsstätte Topographie des Terrors. München, die einstige Hauptstadt der Bewegung, zieht jetzt nach.
Nach einem schwierigen, 25-jährigen Denk- und Planungsprozess steht das Münchner NS-Dokumentationszentrum auf geschichtsträchtigem Ort direkt am Königsplatz. Dort schlug das ideologische, blut-und-boden-getränkte Herz der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter Partei (NSDAP), deren Vorläuferin, die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) 1919 in München gegründet wurde, der Hitler im selben Jahre beitrat.
1933 wurden auf dem Königsplatz, ein Demonstrations- und Aufmarschgelände der Nationalsozialisten, zwei Ehrentempel zur Erinnerung an die bei Hitlers Putsch am 9. November 1923 vor der Feldherrnhalle erschossenen „Blutzeugen und Märtyrer“ errichtet, dem Platz, wo bereits im „Braunen Haus“, dem ehemaligen Barlow-Palais, die Reichsleitung der Nazi-Partei ihren Sitz hatte.
An dieser Stelle wurde das neue Dokumentationszentrum errichtet, das mit seinen vier Geschossen auch den „Führer-Bau“ (heute die Musikhochschule) überragt und aus seinen weiten Fensterfronten den Blick auf diese steinernen Zeugnisse des Dritten Reiches freigibt.
In auch architektonisch überbordender Symbolik beginnt die chronologische Dauerausstellung nicht unten, sondern ganz oben, im vierten Geschoss des NS-Dokumentationszentrums, und demonstriert dem abwärts steigenden Besucher gleichsam „Aufstieg und Fall“ der Nazis, ehe er sich im Erdgeschoss und auf dem großzügig gestalteten öffentlichen Platz davor (gleichsam ein Forum einer freien Gesellschaft) wieder erdet – und in der demokratischen Gesellschaft der Gegenwart ankommt.
Dazwischen freilich durchläuft er in 20 Stationen die leidvolle Geschichte Münchens im Nationalsozialismus, der „Ordnungszelle Bayerns“: Von den Anfängen und dem Aufstieg der „völkischen Partei“ und ihres „Führers“ Adolf Hitlers, der seinen Siegeszug in den Münchner Bierkellern und in den bürgerlichen Salons antrat. Akribisch dokumentiert die Dauerausstellung mit Plakaten, Bildern und Fotografien, schriftlichen Zeugnissen und Filmen nicht nur die Zeit von 1918 bis 1933 (im vierten Obergeschoss), sondern auch den alle „arischen Deutschen“ einschließenden, rassistischen und antisemitischen Weg zur „Volksgemeinschaft“, nach dem Motto „Wegschauen – Zuschauen – Mitmachen“ (drittes Obergeschoss).

Vom braunen Spuk befreit

Dann beginnt (zweites Geschoss) der Abgesang, der Krieg und die Kriegsjahre von 1939 bis 1945, die auch in München ihre verheerenden Spuren hinterließen.
Die Befreiung Münchens vom braunen Spuk, wie im Nachhinein die in der Tat gespenstische Nazi-Zeit beschönigend und verharmlosend apostrophiert wurde, vor allem aber die bis heute nachbebenden Folgen des Nationalsozialismus werden dann im ersten Obergeschoss abgehandelt. Dort ist das Thema der schwierige Weg in die Demokratie und eine immer wieder gefährdete „offene Gesellschaft“. Eine Gesellschaft, die wie über die jetzt erst freigelegten „Ehrentempel“ der Nazis oder über die „Brandstätte“ auf dem Königsplatz, wo 1933 die Nazis die Bücher missliebiger Schriftsteller verbrannten, buchstäblich Gras wachsen ließ.
Das NS-Dokumentationszentrum München und seine Dauerausstellung stellt sich als ein begehbares Geschichtsbuch vor, in dem in schöner Ausgewogenheit Kapitel für Kapitel aufgeschlagen wird. Freilich in ermüdender, architektonisch bedingter Gleichförmigkeit: Auf Stellwänden und Tischvitrinen werden auf allen Stockwerken in immer gleicher Abfolge abwechslungslos und in ausufernden Fülle (oft schwer lesbare) Zeugnisse, Bilder und Fotografien präsentiert, die sich nur durch ihre Zeitbezogenheit unterscheiden.
Dabei ist alles in der Ausstellung wichtig und richtig – und trotzdem geht die ausstellungsdidaktische Rechnung nicht auf.
Ein riesiges NS-Archiv wird aufgeblättert, wo doch zentrale Schwerpunkte, herausgehobene exemplarische Ereignisse Abwechslung böten und somit die Aufmerksamkeit der Besucher immer wieder aufs Neue herausforderten. Ein Blickfang, eine versinnbildlichende Fotografie, ein herausgestelltes Bild, ein zusammenraffender Saaltext auf einer Tafel hätten mehr Aussagekraft als noch so viele Einzelbelege. Das redet nicht einem multimedialen Overkill mit Touchscreens, Interaktiv-Stationen und virtuellen Animationen das Wort.
Zum Glück entgeht die Ausstellung wenigstens der Gefahr, mit Realien, mit Uniformen, martialischen SS-Ehrendolchen, Parteiabzeichen, Orden und Koppelschlössern, mit NS-Devotionalien also oder gar mit nostalgisch eingefärbtem Nazi-Kitsch aufzuwarten.
Vielleicht rührt ja die archivalische Gleichförmigkeit daher, dass Architekturplanung und Konzeptualisierung der Ausstellung nicht Hand in Hand gingen, sondern – durch die Querelen im Vorfeld und die wechselnden personellen Verantwortlichkeiten bedingt – asynchron verliefen und nicht aufeinander abgestimmt waren. Das ist den jetzt Verantwortlichen, allen voran dem gleichsam in letzter Minute berufenem Direktor Winfried Nerdinger, nicht anzulasten.
Aber auch das 2001 eröffnete Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände veränderte nach Maßgabe der Erfahrungen, die man vor allem mit Schulklassen und unterschiedlichen Zielgruppen, wie jungen und alten oder ausländischen Besuchern, machte, seinen Charakter. Und warum sollte ein Lernort, als der sich das Münchner NS-Dokumentationszentrum versteht, nicht von sich selber lernen – und sich im Laufe der Zeit auch immer wieder anders darstellen? (Fridrich J. Bröder) NS-Dokumentationszentrum München, Brienner Str. 34, 80333 München. Di. bis So. 10 – 19 Uhr.
www.ns-dokuzentrum-muenchen.de Begleitband zur Dauerausstellung, 621 Seiten, 33 Euro. KOMMENTAR Von Fridrich J. Bröder

„Für das NS-Dokumentationszentrum hätte sich eher der ,Führer-Bau’ angeboten“

VON FRIDRICH J. BRÖDER

Geschichte macht sich nicht nur an Daten und Fakten, an Namen und Personen fest, sondern auch an der greifbaren Authentizität von originalen Artefakten, an den Stein gewordenen Zeugnissen der Zeit. So betrachtet, steht das NS-Dokumentationszentrum München am Königsplatz an der richtigen Stelle. Dort feierten sich Hitler und die Nazis mit den Bauten für die Machtzentrale ihrer „Bewegung“. Im „Führer-Bau“, wo 1938 die Großmächte des europäischen Auslands vor den Nazi in die Knie gingen, wurde nicht nur das Münchner Abkommen unterzeichnet. Das vom Architekten Paul Ludwig Troost konzipierte Gebäude sprengte mit seinem wuchtig-abweisenden Stil bewusst die Harmonie des Platzes und seiner klassizistischen Architektur. Ein Täter-Ort also, der sich mit seinen erhaltenen Gebäuden angeboten hätte, das NS-Dokumentationszentrum in einem solchen authentischen Ort anzusiedeln – wofür sich vor allem der „Führer-Bau“, in dem heute die Musikhochschule beheimatet ist, angeboten hätte.
Wie sich eine solche Ursprünglichkeit auf eine spätere öffentliche Nutzung auswirken kann, beweist das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, wo auf dem größten erhaltenen Ensemble an NS-Architektur, der Zeppelintribüne und dem Torso der gigantischen Kongresshalle, der Nationalsozialismus in all seiner Monstrosität gegenwärtig ist. Ein Publikumsmagnet, nicht zuletzt, weil dort der Nationalsozialismus sich nicht nur visualisiert, sondern in seiner menschenverachtenden Ungeheuerlichkeit nachvollziehbar wird.
Nun sind die Münchner NS-Bauten nicht mit dem in seiner Gigantomanie überwältigenden Reichsparteitagsgelände in Nürnberg vergleichbar. Gleichwohl hätte sich schon vor Jahren, als man erste Überlegungen für ein Dokumentationszentrum in München anstellte, der zusehends verfallende „Führer-Bau“ dafür angeboten. Das scheiterte an der Halbherzigkeit der (vorwiegend SPD-regierten) Stadt München und des Freistaats, die in vorauseilendem Populismus es mit dem bayerischen Konservatismus nicht verderben wollten. Was sich jetzt rächt – allerdings den derzeit für das Dokumentationszentrum Verantwortlichen nicht anzulasten ist, besonders nicht Winfried Nerdinger, der schon vor Jahren den „Führer-Bau“ als Erinnerungsort ins Spiel gebracht hatte. Als „historisches Narrativ“ hätte sich dieses originale NS-Gebäude mit seiner monumentalen Halle und den vielen Zimmern für eine auch räumlich abwechslungsreiche Dauerausstellung zum Thema „München und der Nationalsozialismus“ geradezu aufgedrängt. Wo jetzt im neuen Dokumentationszentrum, in dem – schmerzhaft spür-und sichtbar – die architektonische Planung nicht mit der inhaltlichen Konzeption Hand in Hand ging, eine fast sterile Gleichförmigkeit in den Ausstellungsräumen auf allen vier Stockwerken einen abwechslungsreichen Rundgang mit immer neuen, mal großen, mal kleinen Räumen nicht möglich macht, hätte der entsprechend und wahrscheinlich sogar kostengünstiger umgestaltete „Führer-Bau“ überraschende Ein- und Ansichten, Ausblicke und Blickfänge geboten – und auch mehr Möglichkeiten für besondere Veranstaltungen, vom Konzert bis zur Theateraufführung, von der literarischen Lesung bis zur Podiumsdiskussion. Das hätte den „Führer-Bau“, seine besondere Aura und historische Belastung gleichsam gebrochen, konterkariert und damit demokratisiert. Eine schon vor Jahren verpasste Chance, die das jetzt als „aufgeschlagenes Geschichtsbuch“, als begehbares Archiv daherkommende Dokumentationszentrum nur mit viel Phantasie oder gar mit Event-Ideen in den nächsten Jahren ausgleichen kann, um auch Besucher anzulocken, die in der Dauerausstellung und am viel zitierten Lernort nicht nur informiert und belehrt werden, sondern auch – dem Ort und Thema angemessen – unterhalten werden möchten. Abbildungen:
Ein weißer Kubus beherbergt das NS-Dokumentationszentrum. Links davon der "Führer-Bau", im Vordergrund der Sockel einer der beiden "Ehrentempel". (Fotos: Jens Weber, dpa)

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