Kultur

Gro Swantje Kohlhof, Christian Löber und Thomas Hauser spielen herrlich grotesk, können aber nicht die gravierenden inhaltlichen Schwächen der „postdramatischen Collage“ wettmachen. (Foto: Krafft Angerer)

07.10.2022

Sinnlich schäumendes Nichts

„La mer sombre“ mit Texten von Claude Cahun an den Münchner Kammerspielen bemüht nur Klischees

Sie lassen sich ein Bad ein, mit viel Schaum. Torte landet in einem Gesicht, Sekt wird ins Wasser gegossen. Bald sitzen sie zu Dritt in der Wanne. Und planschen ausgiebig.

Mit dieser Szene kurz vor Schluss, nach rund einer Stunde Spieldauer, ist der Höhepunkt von La mer sombre erreicht, der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Sie kommt fraglos ziemlich schräg und auch lustig daher. Allerdings stellt sich die Frage, was das soll. Immerhin geht es in diesem „dunklen Meer“ um keine Geringere als Claude Cahun. Ihr Sein und Wollen könnten aktueller nicht sein.

Lange vor heutigen Diskussionen um Gender und Identität, Herkunft und Biografie hat Cahun ein Leben fernab jedweder Regeln und Normen gelebt. Im Oktober 1894 in Nantes in eine jüdische Intellektuellenfamilie geboren und 1954 auf der Kanalinsel Jersey verstorben, lässt sich die französische Autorin und Fotografin des Surrealismus in keine Schublade pressen.

Neutrum mit Glatze

Allein ihr selbst gewählter Vorname ist Programm, denn: Claude können sowohl Frauen als auch Männer heißen. „Maskulin? Feminin? Es hängt von der Situation ab. Neutrum ist das einzige Geschlecht, das immer zu mir passt“, bekannte sie frühzeitig. Sie rasierte sich ihre Haare ab, wirkte mit dem Glatzkopf umso androgyner. Mit ihrer Stiefschwester Suzanne Malherbe ging Cahun eine Lebenspartnerschaft ein. Nach der Besetzung Frankreichs flüchteten sie vor den Nazis nach Jersey. Als auch die Insel deutsch wurde, drohte beiden als Widerstandskämpferinnen die Hinrichtung.

Diese Vita passt perfekt in die Münchner Kammerspiele. Dort liebt man den zeitaktuellen, gesellschaftspolitisch relevanten Diskurs. So verwundert es grundsätzlich nicht, dass Regisseurin Pinar Karabulut für die Kammerspiele aus Textfragmenten und Gedanken Cahuns ein Theaterstück kreiert hat. In diesem Projekt sollte das Wirken von Cahun ins Hier und Jetzt katapultiert werden.
Diese Aktualisierung ist schiefgegangen. Das ist schon den Liedern, Monologen und Dialogen geschuldet: Ihnen fehlt jedweder Zauber. Den Worten und Gedanken Cahuns wurde jede noch so kleine Poesie und Dringlichkeit ausgetrieben. Ein Niveau der Reflexion wurde erreicht, das bestenfalls kümmerlich zu nennen ist.

Das haben visuell die schrillen Kostüme von Claudia Irro und die quietschbunte, auch grellpinke Bühne von Aleksandra Pavlovi(´c) noch unterstrichen. Da wurde teils ziemlich tief in die Klischee-Kiste gegriffen, um ein vermeintliches Lebensgefühl der LGBT-Community abzubilden. Mit solchen Klischees werden Schwule und Lesben, Bisexuelle und Transgender seit Jahrzehnten stigmatisiert.

Nur geistige Leere

Mag sein, dass das alles ironisch gebrochen werden sollte, aber auch oder gerade für Ironie bedarf es ein Mindestmaß an Hirnmasse. Hier gähnte geistige Leere.
Auch das großartige, grotesk überdrehte, urkomische Spiel von Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof und Christian Löber konnte das auf die Dauer nicht wettmachen. Bei der besuchten zweiten Vorstellung leerten sich die Publikumsreihen merklich.

Dabei ging es recht originell los. Das Trio sitzt in den Zuschauerreihen verteilt. Plötzlich hebt Kohlhof mit einem Wortschwall an, bis die drei zu singen beginnen. Sie tragen lange Haare, wobei vor allem die beiden Männer im Grunde betont geschlechtslos gekleidet sind. Während sie durch die Reihen poltern, suchen sie die direkte Kommunikation mit dem Publikum: eine Art interaktive Performance. Sonst aber gibt sich das Stück als betont „postdramatische Collage“.

Das Originellste ist das radikal Sprunghafte. Damit werden die Versatzstücke aus den Schriften Cahuns zu herrlich absurden Schnitten und Schlüssen zusammengepresst. Diese Schriften sind: Vues et Visions (Ansichten und Visionen) von 1919 sowie Héroïnes (Heroinnen) und Aveux non Avenus (Uneingestandene, nichtige Geständnisse) von 1930.

Am Ende wird also im Schaumbad geträllert und geplanscht. Die Bühnenarbeiter tragen die Ausstattung weg, bis die Szenerie leer ist: so nackt wie das sinnlich schäumende Nichts. Es wurde übrigens viel gelacht. (Marco Frei)

 

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