Kultur

Als Jean-Philippe Baratier 1735 in Berlin weilte, porträtierte ihn dort der königliche Hofmaler Antoine Pesne Seite an Seite mit Minerva, der Göttin der Weisheit. (Foto: Bürgerstiftung unser Schwabach)

15.01.2021

Superschlauer Knirps

Schwabach ehrt den vor 300 Jahren geborenen Jean-Philippe Baratier mit einer Bronzeskulptur und einem Wegnamen

Jetzt bekommt er sogar noch ein Denkmal. Das zeigt ihn als Bronze-Knirps mit einem dicken Folianten auf den Knien. Dabei hatte Schwabach Jean-Philippe Baratier eigentlich längst vergessen. Aber nun hat dieser am 19. Januar 1720 in der Schwabacher Boxlohe Geborene seinen 300. Geburtstag. Und deshalb erinnert an ihn bald mit bürgerschaftlicher Kraftanstrengung und Finanzierung vor der „Franzosenkirche“ diese Bronzeskulptur und ein nach ihm benannter Weg.

Die Boxlohe in Schwabachs westlicher Altstadt wurde 1685 den Hugenotten aus Frankreich zur Ansiedlung zugewiesen; die Grundsteinlegung für ihre Evangelisch-reformierte Kirche erfolgte 1686, ein Jahr später deren Einweihung. Und 1719 nahm die „Natur all ihre Geschicklichkeit zusammen“, um mithilfe von François Baratier, dem Prediger der Hugenottengemeinde, und dessen Frau Anna Charles eine „solche Seele hervorzubringen“ wie die des „frühzeitigen Gelehrten“ und Knaben Jean-Philippe.

So blumig sah das Carl Gottfried Winkler aus Leipzig, der zwei Jahre nach dem Tod des Wunderkinds Gründe dafür suchte, warum die Natur 1721 „all ihre Kunst verschwendet hat für die Bildung der Seele unseres Baratiers“. Der aber schon mit 19 Jahren an einer nie ganz verheilenden Wunde, an einer Krebskrankheit, an all dem ehrgeizigen Druck des Vaters starb.

Frühe Sprachbegabung

Es gibt überraschend viele Wege, auf denen man sich dieser für das gelehrte 18. Jahrhundert durchaus typischen Figur annähern kann. Vielleicht durch Parallelen zu Wolfgang Amadeus Mozart und dessen Vater Leopold. Oder durch einen Exkurs zu den französischen Hugenotten, die – vertrieben durch die Aufhebung des Edikts von Nantes – nicht nur in Schwabach durch Gobelin- und Strumpfwirkerei schnell zu Wohlstand kamen und deren Geist man dort heute noch spüren kann.
Worüber man zu Jean-Philippe Baratier in den verstreut aufbewahrten Quellen nachlesen kann, das ist vom vierten Lebensjahr an dessen mnemotechnische Virtuosität. Der Kleine sprach „nicht etwa bloß einige Worte und auswendig gelernte Formeln“, sondern „völlig zusammenhangend“ Französisch, Deutsch und Lateinisch – ohne Kenntnis der Grammatik, allein durch den alltäglichen Sprachgebrauch mit seinem gelehrten Vater, der französischen Mutter und der deutschen Magd.

In den Abrissen zur Geschichte der Universität Halle von Johann Förster (1799) und Johann Christoph Hoffbauer (1805) wird aufgezählt, was den Buben zu einem „Wunder seiner Zeit“ machte. Der Vater erklärte ihm die griechischen Buchstaben – und schon konnte Jean-Philippe das Neue Testament im Original lesen und übersetzen. Kaum fünf Jahre alt, kam Hebräisch dazu, und mit acht Jahren konnte er alle Psalmen auswendig. Dem Wunderknaben gefiel Hebräisch so sehr, dass er die „rabbinischen und talmudischen Schriften“ mit „größter Aemsigkeit“ las.

Das war dann auch die Zeit, in der sich sein Ruf über Schwabach hinaus verbreitete: Gelehrte von der Universität Altdorf kamen, sahen den jungen Alleskönner inmitten der „vielen und großen Bücher“, wie er aus einer hebräisch-chaldäischen Bibel Wichtiges exzerpierte und führten gelehrte Gespräche mit ihm. Die Markgräfin von Ansbach ließ ihn zu sich kommen, wollte ihn gar nicht mehr „von sich lassen“ , und wenig später bekam Baratier die Erlaubnis, „sich des ganzen anspachischen Büchervorraths zu bedienen“. Dazu kam ein „ansehnliches Gehalt“ für drei Jahre.

Mit zehn Jahren häufte Baratier noch orientalische, syrische und arabische Sprachkenntnisse auf. Zu einer lesbaren Schönschrift animierte ihn der Vater durch die Aussicht auf den Druck seiner Werke. Zum Beispiel der gelehrten Anmerkungen zum Bericht des bedeutendsten jüdischen Reisenden des Mittelalters: Benjamin von Tudela war von Spanien aus durch ganz Südeuropa und schließlich bis nach Arabien gereist – vielleicht auf der Suche nach Edelsteinen und Korallen oder nach Fluchtwegen für seine verfolgten Glaubensbrüder.

Alles das ist heute noch gründlicher vergessen als Jean-Philippe selbst – praktische Nutzanwendung aber fanden seine Forschungen zu den Längengraden und zur Vermessung der Meeresoberfläche samt seinen mathematischen Schriften mit oft maritimem Bezug.

Mit 14 schon Doktor

So richtig interessant wird die Baratier-Biografie erst, als sein Vater auf eine Predigerstelle in Stettin versetzt wurde, wohin ihn sein Weg über Leipzig, Halle und Berlin führte. Dorthin war der Ruf des vorzeitigen Gelehrten schon durch den früheren Altdorfer Professor Schulze gedrungen, der Jean-Philippe dem hallensischen Kanzler Johann Peter von Ludewig präsentierte. Der war so begeistert, dass er Baratier am gleichen Abend noch „examinieren“ und am nächsten Vormittag an der Friedrichs-Universität immatrikulieren ließ. Tags darauf folgte eine öffentliche Disputation und die feierliche Promotion.

Baratier war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt – und Ludewig gab ihm 14 „Thesen“ politischen, historischen, astronomischen Inhalts auf, die der Kandidat vor allen Professoren, Gelehrten und Studenten „verteidigen“ musste. „Innigste Bewunderung“ war das Ergebnis.

Und was nicht weniger wichtig war: Baratier erhielt diverse Empfehlungsschreiben an den Leibarzt von König Friedrich Wilhelm I. in Berlin: Einladung zur Audienz, gelehrte Gespräche mit der Majestät und die Zusage einer jährlichen Pension. Die Königin ließ den Hofmaler Antoine Pesne kommen: Dieser malte den jungen Schwabacher zusammen mit Minerva, der Göttin der Weisheit – das Gemälde wanderte ins Cabinet der Königin.

Die Baratiers zogen dann doch nicht nach Stettin, sondern kehrten zurück ins gelehrte Halle; Schwabach lag in den Fernen der Vergangenheit, er sollte auch nie wieder ins Fränkische kommen. Baratier häufte weiterhin neue „lieblings-Wißenschaften“ auf: Mathematik, Natur-Historie, Antiquitäten, Numismatik. Genauso aber nahm seine Schwächlichkeit zu, man vermutete Schwindsucht – und am 5. Oktober 1740 war Jean-Philippe Baratier tot: „Halle weinet, Schwabach seufzet, Deutschland klaget“, schrieb man.

Der Kondukt der hallensischen Geistesgrößen, der seinem Sarg folgte, war lang. Der Kanzler ließ ihn in seinem eigenen „Erbbegräbniß“ beisetzen.

Väterliches Vergehen

So schnell vergessen wurde der früh vollendete Gelehrte nicht, noch im 19. Jahrhundert taucht er immer wieder in den „Geschichten der Universität zu Halle“ auf: in schwülstiger Beflissenheit, aber auch mit einer Spur kritischer Distanz. Je schneller die Ausbildung von Baratier, so Hoffbauer, geistig vorangeschritten sei, desto schneller musste die körperliche Hülle dahinwelken. Und wäre der Vater ein weiserer Erzieher gewesen, hätte er die Ausbildung seines Sohnes lieber aufgehalten als immer mehr angetrieben. Unter dem Titel „Merkwürdige Nachricht von einem frühzeitig gelehrten Kinde“ hat ein Stettiner Kollege in Baratiers Erziehungskonzept ein „Vergehen“ gesehen und bedauerte ihn, „dass er durch den frühzeitigen Tod seines einzigen Sohnes seinen Fehler büßen musste“.

Die Schwabacher halten es zum 300. Geburtstag von Jean-Philippe eher mit Carl Gottfried Winklers uneingeschränkter Bewunderung, der seine Lobrede mit dem Aufruf endete: „Lassen Sie sein Andenken in ihren Herzen unsterblich seyn.“

Am 19. März 2021 wird der ehemalige Bayreuther Professor Günter Berger im Rahmen eines mehrmonatigen Festprogramms den Festvortrag halten; tags darauf soll die Bronzeplastik enthüllt werden. (Uwe Mitsching)

Information: www.schwabach.de/de/infoseiten-kulturportal/8954-das-schwabacher-wunderkind-wird-300-jahre.html

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