Kultur

Postmodern hybrid ist Richard Siegals "Two for the show". Man kann zwischen drei Streams hin- und herklicken. (Foto: Thomas Schermer)

14.05.2021

Tanz in die digitale Zukunft

Münchens „Dance“-Biennale setzt auf ein selbstbestimmendes Publikum

Selbst Medienmuffel haben inzwischen gelernt, wie man sich zurechtfindet in einem rein digitalen Festivalprogramm, komplizierte Ticketbestellung inklusive. Es bleibt einem gar nichts anderes übrig bei Münchens diesjähriger Dance-Biennale (bis 16. Mai), die sich Corona beugen musste.

Zum Auftakt schickte der Belgier Jan Martens aus dem Brüsseler Concertgebouw seine Uraufführung Jeder Versuch führt zu zermalmten Körpern und gebrochenen Knochen – eine choreografische Metapher für politisches Aufbegehren. Der Amerikaner Richard Siegal sendete vom Kölner Schauspiel Two for the show – ein postmodernes Hybrid aus Tanz und digitalen Abzweigungen.

Beide Stücke, in der Form grundsätzlich verschieden, bilden Entwicklungen im zeitgenössischen Tanz ab. Jan Martens signalisiert in dieser Zusammenarbeit mit der Berliner Dance-On-Truppe für Tänzer*innen ab 40, dass der alternde Mensch durchaus noch tänzerisch aktiv sein kann. Auf der milchig grauweiß ausgeleuchteten Bühne, die keine Hautfalte wegdunkelt, wirkt dieses gemischte Ensemble zwischen 16 und 69 Jahren erstaunlich homogen.

Darüber hinaus beabsichtigt Martens eine Art politisches Manifest, formal allerdings weit entfernt vom grellen Polit-Tanztheater Johann Kresniks (1939 bis 2019). Martens knüpft hier an den ästhetisch-puristischen Minimalismus der US-Postmodernen Lucinda Childs an. Seine Choreografie entfaltet sich großzügig über die Bühne hinweg mit Gehen, Marschieren, Liegen, Laufen – und zwar in ständig sich ändernden Formationen: von Kolonne zu Pulk, zu Kreis und sich durchkreuzender Reihe. Von hoch oben gefilmt, enthüllen diese Arrangements ein spielerisch komplexes und in Martens’ spröd-kämpferischem Kontext fast zu schönes Bewegungskaleidoskop. In der Frontalschau wird man jedoch hineingezogen in diese stumme Revolte, die sich 17 Körper in all ihren starren und gekrümmten Haltungen und im wilden Wühlen der Arme mitteilen.

Beide Tanzschöpfer haben treibende, zugleich klanglich satte Musiken gewählt: Jan Martens das Konzert für Cembalo und Streichorchester von Henryk Górecki, Richard Siegal die fein rhythmisierten Klangströme von Lorenzo Hoesch und Markus Popp.

Der Game-Master greift ein

Bei Siegal kann das Publikum nach eigener Wahl hin- und herklicken zwischen drei Streams. Der jeweils gewählte Stream erscheint als Vollbild, die beiden anderen bleiben in Kleinformat am unteren Bildrand sichtbar. Dort übernimmt bald ein Game-Master das Kommando. Rechter Hand kann man sich einloggen zum simultanen Chat mit anderen Zuschauerinnen und Zuschauern. Der Homo sapiens von heute lebt seinen Alltag vorwiegend im Multitasking-Rhythmus: Programm-Hopping, News teilen, chatten, daddeln, Videogaming bei gleichzeitigem Verzehr eines angelieferten Asia-Menüs. Tolle oder trübe Perspektiven?

Siegal konnte schon als Tänzer beim großen William Forsythe sein Gespür für postmodern Neues trainieren. Post-postmodern sind in Stream I jedenfalls Siegals phänomenale Tänzer in hinreißend futuristischen Harlekinkostümen. Immer wieder flitzen sie durch das Halbrund einer Lichtröhren-Arena. Faszinierend gestochen erscheinen ihre Pirouetten, Grands Jetés und Bodenfiguren. Sie gewähren obendrein in den Kulissen einen Blick in ihre ko-kreative Probenarbeit. Siegals Patchwork-Angebot zielt höchst zukunftsbewusst auf ein selbstbestimmtes Publikum.

Fortschrittlich zeigt sich auch das Stück The Urge der Münchner Choreografin Ceren Oran. Sie lässt im Freien auf großen Flächen agieren – zeitgleich in München, Köln und Berlin. Die drei jeweils ortsansässigen Gruppen haben sich Orans weich aus dem Körper schwingenden Stil großartig anverwandelt. Und wie da, dank Bildregie, die drei betanzten Spielorte als Bildrechtecke auf dem Bildschirm auf- und abwandern, regelrecht umeinander tanzen: Das ist schon ein Schritt in die digitale Tanzzukunft.

Erkenntnis aus diesem ersten Münchner digitalen Festival: Für den Bildschirm konzipierte Choreografien müssen kürzer sein als 90 und 120 Minuten wie zum Beispiel bei Martens und Siegal. Auch die Zuschauerin und der Zuschauer müssen ihre Zeit managen, sonst hängen sie lässig vier bis fünf Stunden an der Mattscheibe. Die Versuchung ist groß, es zu übertreiben – zumal bei all den Gratis-Künstlergesprächen und gefilmten Probenarbeiten. Den Blick in das Entstehen einer Choreografie sollte man auf jeden Fall nicht versäumen. (Katrin Stegmeier)

Information: Bis 16. Mai. www.dance-muenchen.de

Abbildungen:
Jan Martens: Jeder Versuch führt zu zermalmten Körpern und gebrochenen Knochen (Foto: Phile Deprez)

Richard Siegal: Two for the show. (Foto: Thomas Schermer)

 

 

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