Kultur

Das Ensemble gibt ein tierisches Spektakel, das aber nichts von den Abgründen des Menschseins erzählt. (Foto: Judith Buss)

18.02.2022

Vergnügliches Bauernhoftheater

Sapir Heller belässt Orwells „Animal Farm“ am Münchner Volkstheater im Zeitkontext der Fünfzigerjahre

Schneeball ist ein armes Schwein. Er nimmt die sieben Gebote der „Animalischen Revolution“ sehr ernst. Für seinen Widersacher Napoleon, ein Berkshire-Eber, nimmt er sie zu ernst. Alle Tiere sind gleich? Das möchte Napoleon so nicht stehen lassen, denn: „Manche Tiere sind gleicher.“ Es kommt, was kommen muss: Schneeball wird von Napoleon und seiner Horde vom Hof vertrieben. Was folgt, ist eine Terrorherrschaft unter der Führung Napoleons.

Es ist kein Geheimnis, dass George Orwell seine 1945 veröffentlichte Farm der Tiere bereits 1937 als Parabel auf die „Große Stalin’sche Revolution“ in Sowjet-Russland entworfen hat. In dieser Lesart steht Napoleon für den Diktator Josef Stalin und Schneeball für Leo Trotzki. Hinter dem Schwein Old Major steckt hingegen Lenin. Wie dieser hat er durchaus eine Vision, die allerdings von Napoleons Stalin-Verschnitt pervertiert wird. Das führt schließlich zur Kritik am Totalitarismus, die Orwell in 1984 verpackt.

Macht verschiebt sich nur

Doch das ist nur die eine Seite dieser Fabel. Die andere ist weitaus komplexer. Für den überzeugten Sozialisten Orwell steht nicht nur fest, dass die ursprünglichen Ideen des Kommunismus verraten wurden. Vielmehr ist für ihn jede Revolution letztlich zum Scheitern verurteilt, weil sie Macht nur verschiebt oder anders verteilt.

Genau dies wäre die große Herausforderung einer Regie, die diese Fabel auf die Bühne hievt. Für ihre Inszenierung am Münchner Volkstheater spart Sapir Heller diese Ebene komplett aus. Schon die Bühne und Ausstattung von Anna van Leen machen deutlich, dass der Stoff nahezu identisch übertragen und in seiner Zeit belassen wird. Im Grunde bleibt es mehr bei einer Art szenischen Umsetzung der bedeutenden britischen Zeichentrickverfilmung, die zwischen 1951 und 1954 von John Halas und Joy Batchelor realisiert wurde. Als dieser Streifen 1954 im Westen herauskam, war Stalin seit rund einem Jahr verstorben, und der Sozialismus existierte noch ganz real.

In der Zwischenzeit ist allerdings einiges passiert. Das berührt gerade die Metaebene dieser Fabel, also das Scheitern jedweder Revolution. Diese Frage tut gerade in Deutschland ganz besonders not und zugleich ziemlich weh. Als Sapir Heller 1989 geboren wurde, fiel in Berlin die Mauer. Doch was bleibt von der „friedlichen Revolution“? Das erste Jahrzehnt im wiedervereinigten Deutschland mutiert vor allem zu einer großen Umverteilung von Macht: nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Viele Existenzen gehen jäh in die Brüche. Auch weiterhin fühlen sich viele Menschen abgehängt und ausgeschlossen.

Bei Heller steht ein Solistenensemble als Tiergestalten auf der Bühne. Mit der typisch runden Trotzki-Brille gibt Steffen Link das Schwein Schneeball. Als böser Stalin-Napoleon-Eber agiert Anne Stein, und Jonathan Müller ist dessen listiger „Squeaker“-Propagandist. Er bringt es sogar fertig, die Schlachtung des fleißigen Rosses Boxer (Jan Meeno Jürgens) zu vertuschen. Die aufmüpfige Henne Rieke (Henriette Nagel) erschießt er hinterrücks, und Napoleon tötet die aufgebrachte Kuh Marie (Maral Keshavarz). Die Mutterstute Kleeblatt (Lorenz Hochhuth) bleibt mit dem Esel Benjamin (Jakob Immervoll) zurück. Selbst die dümmlichen Schafe (Julian Gutmann und Silas Breiding) haben zuvor allmählich verstanden, dass diese Animal Farm nichts mehr mit den ursprünglichen Werten von Lenin-Sau Old Major (Max Poerting) gemein hat.

Es gibt sie also sehr wohl, die schauerlichen Momente in dieser Umsetzung. Trotzdem wähnt man sich über weite Strecken in einem Varieté, das die Handlung in ihrem Zeitkontext belässt. Diesen Gang durch ein historisches Museum moderiert in quasiepischer Distanz Philipp Lind. Er gibt zugleich der echten Labrador-Hündin Hailey eine Stimme; sie schnüffelt als Erzählerin wiederholt durch die Szene.
Nach diesem Bauernhoftheater geht man durchaus vergnügt nach Hause – aber mit seiner wachen Zeitkritik blickt George Orwell eigentlich tief in die Abgründe des Menschseins. Davon ist diese Inszenierung weit entfernt.(Marco Frei)

 

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