Kultur

Marat (Nils Strunk) mit dem Marquis de Sade (Charlotte Schwab) und dem Revolutionärsgefährten Jacques Roux (Thomas Lettow). (Foto: Matthias Horn)

05.10.2018

Wilde Geisterbahnfahrt

In Tina Laniks Inszenierung von „Marat/Sade“ am Münchner Residenztheater geht es zu wie in der richtigen Politik

Skandal! Nein, nicht im Sperrbezirk und nicht um Rosi, sondern im Resi. Denn wenn das Theater heute schon von sich aus keinen mehr aufregt, dann muss man die Aufregung eben mitinszenieren: „Das Volk kann seine Mieten nicht mehr zahlen“, ruft der Revolutionär Marat (Nils Strunk) von der Bühne herab, dann erzählt er was von „Söderalismus“ und verkündet: „Wir hoffen nicht, dass es so bleibt!“ Weshalb ein „Zuschauer“ von hinten auch mit aggressiven Zwischenrufen kontert („Ich kann es nicht mehr hören“). Und prompt springen einige echte Zuschauer mit Gegen-Zwischenrufen und Applaus auf die Provokation an.

Kaum durchschaubar

Aber auch sonst ist es an diesem Abend fast wie in der richtigen Politik: Man sitzt im Parkett, und auf der Bühne zetert ein schrilles, groteskes, eher schmuddeliges Spektakel vorüber. Was da genau vor sich geht, ist kaum zu durchschauen, sondern nur vage zu erahnen – weil man das Stück schon kennt und natürlich dank der bunten, eindrücklichen Bilder, in denen uns das Geschehen präsentiert wird: Der „vierte Stand“ (also die Armen) schlurft mit weißer Feinripp-Unterwäsche und grauen Zausel-Frisuren daher, zombieartige Zylinderträger fungieren als Henker am Schafott, ehe sie einen schrägen Totentanz wie im Horrorfilm vorführen, und Marquis de Sade (wunderbar: Charlotte Schwab) sitzt mit riesigem Fettbauch rum wie eine abgelegte Marionette.
Zu all dem gibt’s auch eine Menge Text, der aber häufig aus Wiederholungen besteht und nur an wenigen Stellen ernsthaft ans Eingemachte geht. Dass die ganze Szenerie in einem Irrenhaus angesiedelt ist, muss man da eigentlich gar nicht mehr extra erwähnen.
Mit einer gelungenen Geisterbahnfahrt, passend zur Wiesn, startet also das Münchner Residenztheater in die neue Spielzeit. Wobei es gleich in mehrfacher Hinsicht die Geister der Vergangenheit sind, die da beschworen werden: Peter Weiss’ 1964 uraufgeführte Geschichts-Groteske Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“, kurz Marat/Sade genannt, war ein internationaler Bühnenhit der 60er- und 70er-Jahre.
Dass uns das Stück, dessen Plot durch seinen langen Titel eigentlich schon hinreichend beschrieben ist, trotzdem noch eine Menge angehen kann, macht Tina Laniks überraschend aufgeraute Inszenierung spürbar – auch wenn sie uns nicht verrät, worin genau diese aktuelle Relevanz liegt.

Raffiniertes Bühnenbild

Wobei Stefan Hageneiers raffiniertes Bühnenbild nicht wenig zum Gelingen des Abends beiträgt: Es besteht aus farbigen Wandelementen auf zwei konzentrischen Drehbühnen, die wie ein Mahlwerk gegeneinander rotieren. So entstehen immer wieder neue Räume und schmale Korridore, in denen Hintertreppen, Guillotinen, Waschbecken, Gittertüren, Kloschüsseln sichtbar werden – und natürlich das Hauptrequisit, die Badewanne, in der Marat schon gleich zu Beginn liegt wie auf dem berühmten Gemälde von David. Im Lauf des Abends wird er noch oft darin liegen, tot und lebendig, überschüttet mit Sturzbächen von Theaterblut, und einmal auch zusammen mit de Sade, sodass man unwillkürlich an Loriots zwei Herren im Bade denken muss: „Die Ente bleibt draußen!“ Wenn das kein Skandal ist! (Alexander Altmann)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll der Numerus clausus für Medizin abgeschafft werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.