Kultur

Verwirrt meint letztlich Tom Rakewell (Gyula Rab), Adonis zu sein. (Foto: Jean-Marc Turmes)

14.10.2022

Zwischen Himmel und Hölle

Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“ am Gärtnerplatztheater geht unter die Haut

Er saß in der Seitenloge, obwohl man ihn gerne im Orchestergraben erlebt hätte in dieser ersten Premiere einer Neuproduktion am Gärtnerplatztheater nach der Sommerpause. Noch dazu passt dieses Werk perfekt zum künstlerischen Profil von Anthony Bramall. Eine neoklassizistische Nummernoper im Stil von Bellini, Rossini oder Mozart, gewürzt mit modernen Mitteln: Da fühlt sich der Gärtnerplatz-Chefdirigent eigentlich wohl. Tatsächlich war Bramall 2014 in Leipzig eine exemplarische Leitung von Igor Strawinskys The Rake’s Progress gelungen.

Zäher Anlauf

Dass er die jetzige Neuproduktion des 1951 uraufgeführten Dreiakters am Münchner Gärtnerplatztheater nicht selber leitete, ist der Pandemie geschuldet. Weil das Musiktheaterstück Mass von Leonard Bernstein coronabedingt gestrichen werden musste, wurde Rubén Dubrovsky stattdessen für den Strawinsky verpflichtet. Bei der Premiere musste er sich im ersten Akt mit dem Gärtnerplatz-Orchester erst einmal aufwärmen. Seine Leitung wirkte zunächst in Farbgestaltung, Stilistik und Klanglichkeit recht diffus, nicht immer präzise die Einsätze zumal im Blech.

Selbst die Regie von Adam Cooper, auch bekannt als Darsteller von Billy Elliot in dem gleichnamigen Film (2000), wirkt zunächst etwas fad. Im ersten Akt bedient Cooper die Spieloper, wofür Walter Vogelweider als Bühnenbild eine Scheune samt Strohballen beisteuert. Dort vergnügt sich Gyula Rab als Titelheld Tom Rakewell mit Ann (Mária Celeng). Sie ist die Tochter von Trulove (Holger Ohlmann). Der Ausstatter Alfred Mayerhofer steckt Tom in Cowboystiefel. Im Heu zupft er auf einer Gitarre herum. Das wirkt im Spiel etwas unbeholfen. Auch gesanglich nimmt man Rab den Wüstling zunächst nicht ab: zu brüchig das Timbre. In ihrem Röckchen wirkt zudem Celengs Ann noch arg naiv.

Aber noch vor der Pause, im zweiten Akt, gewinnt diese Produktion an Fahrt. Allein der Auftritt von Anna Agathonos als vollbärtige Türkenbaba ist darstellerisch und stimmlich eine schiere Freude. Als konfuser Auktionator Sellem hat auch Juan Carlos Falcón die Lacher auf seiner Seite, ebenso Ann-Katrin Naidu als schrill-derbe Mutter Goose. Dagegen lässt der teuflische Nick Shadow von Matija Mei(´c) das Blut in den Adern gefrieren. Mit seinem unheilvoll dunkel gefärbten Bariton macht Mei(´c) das Böse geradezu hörbar.

Ein Opernkrimi allererster Güte ist das nächtliche Höllenduell zwischen Tom und seinem bösen Schatten Nick auf dem Friedhof. Der Bösewicht verliert, aber: Bevor dieser Teufel in die Hölle steigt, verflucht er Tom zu ewigem Wahnsinn.
Was aus dieser finalen Wahnsinnsszene am Gärtnerplatztheater wird, ist in jeder Hinsicht große Opernbühne: musikalisch und inszenatorisch. Aus dem einstmals stattlichen, furchtlosen Tom, der für Freiheit und Ruhm sogar das eigene Liebesglück verschmäht und einen Pakt mit dem Teufel nicht scheut, ist ein Irrer geworden. Sein Blick ist wirr, die Haare zerzaust. Dieser Tom meint nun, Adonis zu sein. Er stammelt von seiner Venus, die ihn bald erlösen werde. Von den Mitinsassen in der Irrenanstalt wird er ausgelacht. Das Ärzteteam zwängt ihn in eine weiße Zwangsjacke.

Mit diesem starken Bild fängt Cooper den Stoff nicht einfach treffsicher ein. Mit dem Irren in der Zwangsjacke gelingt ihm zugleich eine erschütternd aktuelle Metapher auf eine Welt, die gegenwärtig total „verrückt“ ist.

Einfach schaurig-schön

Wie Rab diesen Adonis-Tom spielt und singt, hell-fragil im Timbre: Das ist einfach schaurig-schön. Am Ende erscheint ihm tatsächlich seine Venus. Es ist Ann, die ihn in der Irrenanstalt besucht und in den Schlaf wiegt. Es ist ein letztes Lebewohl, denn Schlafes Bruder naht bereits: in Gestalt von Toms teuflischem Schatten Nick. Wie Celengs Ann dem Verrückten liebevoll seine Würde lässt, das geht unter die Haut. Großer Beifall für alle. (Marco Frei)

 

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