Landtag

Den demografischen Wandel nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance zu sehen – das fordern Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung Tutzing, und Norbert F. Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. (Foto: Hertlein)

28.03.2014

Den Kreativen gehört die Zukunft

Akademiegespräch: „Boomtown München, Ödnis auf dem Land?“ – Bevölkerungsforscher Norbert F. Schneider über Risiken und Chancen des demografischen Wandels

Immer weniger Geburten und immer älter werdende Menschen, dazu eine schrumpfende Bevölkerungszahl: Der demografische Wandel macht Deutschland und auch Bayern zu schaffen. In einer Gesprächsrunde der Akademie für politische Bildung Tutzing im bayerischen Landtag mit dem Titel „Boomtown München. Ödnis auf dem Land?“ mahnt Norbert F. Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, jedoch: „Zu viele Menschen sehen den demografischen Wandel als Bedrohung statt als Chance.“

„Wir wollen heute betrachten, wie es morgen und übermorgen in Bayern aussehen könnte“, begrüßt Landtagsvizepräsidentin Inge Aures (SPD) die Anwesenden. Denn die Probleme lägen auf der Hand: Die Gesellschaft altert und schrumpft zusehens. Hinzu kommt, dass gerade aus ländlichen Regionen immer mehr Menschen in die großen Städte drängen. Während das aus allen Nähten platzende München in den kommenden Jahrzehnten Wachstumsraten von bis zu 18 Prozent erwartet, werde das oberfränkische Wunsiedel beispielsweise bis 2030 rund ein Sechstel seiner Bevölkerung verlieren, so Studien. Das Szenario drohe also tatsächlich: Boomtown München, Ödnis auf dem Land.

„Demografischer Wandel gehört schon immer zur Menschheitsgeschichte“, betont Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung Tutzing. „Bevölkerungen schrumpfen und wachsen seit jeher.“ Die Gefahr sei dabei allerdings: „Viele neigen dazu, zu verdrängen, wie sehr sich unsere Gesellschaft verändern wird.“

Und die Folgen sind gravierend: Während die Landeshauptstadt München in Verkehrsstaus fast erstickt, sich in überfüllten U-Bahnen die Menschen drängen und die Mietpreise immer weiter explodieren, fehlen den ländlichen Regionen die Menschen. Dort stehen Häuser leer, Betriebe wandern ab. Auch lohnt sich oftmals die Bereitstellung eines öffentlichen Nahverkehrs nicht mehr angesichts der sinkenden Passagierzahl. Schneider vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, der ursprünglich aus Oberfranken kommt, klagt: Er sei schon jetzt schockiert, wie leer manche Städte und Dörfer dieser Region seien.

Aber Schneider glaubt dennoch, dass manches schlicht zu schwarzgemalt wird. „Auch wenn wir bald weniger Menschen sein werden: Wir kommen in Zukunft in Deutschland auf etwa 70 Millionen Einwohner – das ist die gleiche Zahl wie in den 60er oder 70er Jahren.“ Ein Problem sieht er allerdings in der Bevölkerungsverteilung: „Ein Viertel von Bayern entwickelt sich demografisch so ungünstig, das heißt, es wandern so viele Leute dort ab, dass diese Regionen dringend Förderung brauchen.“ Denn die Folgen sind offensichtlich: Zum Beispiel leere Klassenzimmer auf dem Land oder gar komplett geschlossene Schulen. „In den nächsten 20 Jahren werden die Schülerzahlen aller Schularten in Bayern um 17 Prozent zurückgehen“, prophezeit Schneider.

Im Gegenzug nimmt die Zahl der älteren Menschen in Bayern deutlich zu. Aktuell ist bereits die Hälfte der Menschen in den Regionen München, Ingolstadt und Erlangen älter als 42 Jahre. In Wunsiedel liegt dieser Medianwert noch höher: bei 49,3 Jahren. Und diese Werte werden sich in Zukunft immer weiter nach oben verschieben.

Das klingt nach düsteren Aussichten für den Freistaat. „Nicht unbedingt“, sagt Schneider überraschend. „Wenn sich die Dörfer und Städte neu erfinden.“ Dazu bräuchten sie allerdings Unterstützung: einen flächendeckenden Breitbandanschluss beispielsweise, damit auch ländliche Regionen schnelles Internet bieten können. Das mache diese beruflich attraktiver. Auch für den schwächelnden Nahverkehr kennt der Experte eine Lösung: „In bevölkerungsarmen Regionen in anderen Teilen Deutschlands wurden Busse durch Sammeltaxis ersetzt“, erklärt er. „Das ist günstiger, als einen teuren Nahverkehr aufrechtzuerhalten, wenn ihn niemand nutzt.“ Akademieleiterin Münch pflichtet ihm bei und ergänzt: „Es kann keine Standardlösungen geben, um den neuen Herausforderungen zu begegnen.“

Kreative Lösungsansätze hat Schneider indes viele – zum Beispiel für das Thema Ärzteversorgung: „Es werden in Zukunft nicht mehr alle einen Hausarzt im eigenen Dorf haben“, sagt er. „Stattdessen könnten aber Konsultationen über das Internet angeboten werden. „Bei kleineren Erkrankungen ist das für die Betroffenen angenehmer, als eine Stunde im Wartezimmer zu sitzen. Davor muss einem nicht bange sein.“

Virtuelle Arztbesuche statt lange Anfahrtswege


Doch von Schneiders Ideen sind nicht alle Anwesenden überzeugt. Walter Dachsenberger ist 81 Jahre alt. Ihm laufe es kalt den Rücken runter, wenn er daran denkt, dass seine vier Urenkel später zu einem virtuellen Arzt sollen, erklärt er. „Das ist doch schrecklich! Es kann nicht sein, dass man sich nur noch am Computer um seine Gesundheit kümmert.“ Er wünscht sich, dass sich die Politiker intensiver mit dem demografischen Wandel auseinandersetzten. „Dann würden sie begreifen, dass es Quatsch ist, in der Münchner Innenstadt immer mehr Wohnungen zu bauen. Wenn dort noch mehr Leute aufeinanderhocken, sinkt doch die Lebensqualität.“

Die 24-jährige Studentin Anna-Carina Endres findet es vor allem schade, dass sich wenig junge Menschen für das Thema interessieren. „Immerhin ist es unsere Zukunft, um die es geht.“ Vorbehalte gegenüber kreativen Neuerungen hat sie nicht: „Der virtuelle Arzt wäre für mich kein Problem“, sagt sie. „Ich bin ja mit dem Internet aufgewachsen.“ (Jennifer Hertlein)

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