Landtag

Die Sea Eye kurz vor ihrem Rettungseinsatz. (Foto: dpa/Bernd Wüstneck)

06.11.2020

"Die EU lässt Flüchtlinge sehenden Auges ertrinken"

20.000 Menschen sind bereits bei ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben – doch Bayern und Deutschland unterstützen Seenotretter nicht bei der Arbeit

Gorden Isler von der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye in Regensburg ist sauer. Seit 2015 konnten durch die privat finanzierten Schiffsmissionen über 15 000 geflüchtete Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet werden. Dennoch lege die Politik den Vereinen nur Steine in den Weg – aktuell würden zum Beispiel sechs Hochseeschiffe von italienischen Behörden rechtswidrig festgehalten. „Wo bleibt der Protest der deutschen Politiker?“, fragt Isler bei der Expertenanhörung „Seenotrettung im Mittelmeer“ im Europaausschuss des Landtags. Er fordert ein staatliches Seenotrettungsprogramm, um möglichst viele Menschen zu retten.

Michael Buschheuer, der mit seinem Regensburger Verein Space- Eye die Vorgänge auf dem Mittelmeer dokumentiert, beklagt dieses Jahr bereits 575 Todesfälle. Er befürchtet, dass die Dunkelziffer in Wahrheit viel höher ist, weil kaum noch Militär oder Hilfsorganisationen im Einsatz sind. Wenn drei Leichen angespült werden, geht die Statistik eben um drei Tote nach oben. Dabei weiß jeder, dass sich kein Flüchtlingsboot mit nur drei Personen auf den Weg macht. Insgesamt haben in den letzten Jahren über 20 000 Menschen bei der Mittelmeerüberquerung ihr Leben verloren. Seit acht Jahren werde jetzt über die Seenotrettung diskutiert, schimpft Buschheuer. Dabei sei die Lösung ganz einfach: „Menschenleben sind zu retten – Punkt.“

Unterstützung dafür kam von August Hanning, Ex-Präsident des Bundesnachrichtendienstes. „Schiffbrüchige müssen laut Völkerrecht gerettet werden – egal aus welchem Grund sie in Seenot geraten sind“, erklärte er. Auch dürften sie nicht in Länder zurückgebracht werden, wo ihr Leben aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Staatsangehörigkeit bedroht ist. Das Dilemma entsteht aus dem zweiten Punkt: Es gibt keine völkerrechtliche Verpflichtung für Küstenstaaten, die geretteten Menschen auch aufzunehmen. Hanning sprach sich dafür aus, den Grenzschutz zu verbessern, die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Staaten zu verstärken und bereits in Zentren außerhalb Europas zu klären, ob Anspruch auf Asyl besteht.

"Schiffbrüchige müssen laut Völkerrecht gerettet werden – egal aus welchem Grund sie in Seenot geraten sind"

Der Kabarettist und Vorstand des Vereins Orienthelfer, Christian Springer, klagte, dass es schon innerhalb der Europäischen Union keine Moral gibt: „Griechenland schleppt Flüchtlingsboote zurück aufs offene Meer, zerstört die Motoren und lässt die Menschen sehenden Auges ertrinken.“ Nur 0,05 Prozent aller geflüchteten Menschen kämen über das Mittelmeer – deren Rettung sollte die Politik eines so reichen Landes wie Deutschland nicht Privatleuten überlassen. Springer verlangte von den Abgeordneten, nicht länger zuzusehen, wie Schleuser mit ihren kriminellen Machenschaften Milliarden verdienen, und stattdessen aufnahmewillige Kommunen bei ihrem Vorhaben zu unterstützen.

Klaus Ritgen vom Deutschen Landkreistag war bei dem Thema gespalten. Natürlich sei es ein „starkes humanitäres Signal“, wenn Kommunen über die Quote hinaus geflüchtete Menschen aufnähmen. Allerdings sei es ein falsches Signal an die Fliehenden. Ritgen befürchtet, dass sich so noch mehr Personen auf den gefährlichen Weg machen. Außerdem wirke sich die Aufnahme nicht nur auf die Kommune, sondern letztlich auf das ganze Land aus. Um weitere Todesfälle zu vermeiden, plädierte Ritgen neben einem stärkeren Grenzschutz dafür, dass staatliche und private Seenotretter künftig zusammenarbeiten.

Eine schnelle Reform der Seenotrettung ist allerdings nicht zu erwarten. Die Asylbeamtin Elena Lange-Bratanova aus dem Bundesinnenministerium verwies wieder einmal darauf, dass innerhalb der EU „gemeinsame Lösungen“ gefunden werden müssen. Solange es keine Einigung gebe, gelte in Deutschland die Malta-Erklärung. Darin haben sich Deutschland, Frankreich, Italien und Malta auf einen Aufnahmemechanismus von Mittelmeer-Flüchtlingen geeinigt. Das Dokument ist allerdings im März 2020 abgelaufen. „Deutschland handelt aber nach wie vor im Geiste dieser Erklärung“, unterstrich Lange-Bratanova und nannte als Beispiel die Aufnahme von Menschen aus griechischen Flüchtlingslagern.

In der anschließenden Aussprache kritisierte der Abgeordnete Markus Rinderspacher (SPD), dass alle Fraktionen außer seiner Partei und den Grünen diese Expertenanhörung abgelehnt hätten – obwohl es um Leben und Tod geht. „Man kann beim Thema Asylrecht unterschiedlicher Meinung sein, aber doch nicht bei der Frage der Seenotrettung“, kritisierte er. Studien zeigten eindeutig, dass sich nicht mehr Menschen auf den Weg machen, nur weil es Rettungsboote gibt. Rinderspacher forderte die Staatsregierung auf, die Seenotrettung in Regensburg finanziell zu unterstützen.

Florian Siekmann (Grüne) klagte, dass die Europäische Menschenrechtskonvention durch die unterlassene Hilfe systematisch unterlaufen würde. Statt Humanität zu zeigen, würden die EU-Staaten die Seenotrettung zurückfahren, das Anlegen von Rettungsbooten verbieten und private Seenotretter kriminalisieren. Dabei schloss er die Bundesregierung explizit mit ein.

Gabi Schmidt (FW) sorgte sich, dass nicht nur die griechische Küstenwache, sondern auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex an Push-Backs, also illegalen Rückführungen von geflüchteten Menschen, beteiligt ist. Entsprechende Berichte wurden jetzt bekannt. Für Schmidt gibt es keine Alternative zur Seenotrettung – auch wenn die geflüchteten Menschen illegal in die EU gelangt sind. „Wenn ich einen Autounfall habe, fragt doch vor der Wiederbelebung auch niemand, ob ich einen Führerschein habe.“

Retten oder nicht? CSU, FDP und AfD äußerten sich dazu im Ausschuss nicht. (David Lohmann)

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