Landtag

Sind an jedem Kiosk erhältlich: die umstrittenen „Zeitungszeugen“.(Foto DDP)

18.06.2010

Zwischen Aufklärung und Verklärung

Experten-Anhörung zum Nachdruck von NS-Propaganda-Material

Als Max Mannheimer, Überlebender des Holocaust, seine Stellungnahme verlas, war die Aufmerksamkeit im Hochschulausschuss besonders groß: „Ich hoffe, dass Adolf Hitlers ,Mein Kampf’ nicht kommentiert wird. Denn die Kommentare der Historiker können das Negative des Originals nicht aufheben“, sagte er. Der 80-Jährige gehörte zu einem siebenköpfigen Experten-Team, das den Gremiumsmitgliedern das Für und Wider eines möglichen Abdrucks von NS-Propaganda-Material erläuterte. Anlass für die Anhörung war, dass nach dem Jahr 2015 die Urheberrechte für diverse Nazi-Propaganda-Schriften – darunter besagte Hetzschrift Hitlers – erlöschen werden. Ein Großteil dieses Materials erschien ehedem im Eher-Verlag. Die Rechte des Verlags wiederum sind für 70 Jahre auf den Freistaat übergegangen. Dieser hält die menschenverachtenden Schriften großteils unter Verschluss. Nach Ablauf der 70 Jahre gelten sie laut dem Bamberger Generalstaatsanwalt Clemens Lückemann als „gemeinfrei“: Sie können von jedem Dritten zustimmungs- und vergütungsfrei genutzt werden. Aus diesem Grund fragte Mannheimer Lückemann: „Wenn jemand ,Mein Kampf’ kommentiert, darf er das Buch herausgeben?“ Dessen Antwort: „Sollte es zu einer wissenschaftlich kommentierten Ausgabe kommen, wird sie wohl gestattet.“ Um dies zu verhindern, ist es nicht möglich, die Urheberrechte des Freistaats zu verlängern: „Damit würden die Urheber dieser schändlichen Literatur und ihre Nachkommen gegenüber anderen Urhebern privilegiert“, begründete Ulrich Michel, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Film- und Fernsehen in Potsdam. Überdies handele es sich bei der Frist von 70 Jahren um ein weltweit gültiges Abkommen für Werke. Auch eine Änderung des Strafrechts böte sich nicht an, weil in diesem bedeutende Grundrechte widergespiegelt würden. Rechte wie die Informations-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit seien „von fundamentaler Bedeutung für eine demokratische Grundordnung“. Stattdessen müsse man stets auf den Einzelfall abstellen: „Die Form der Verbreitung kann strafrelevant sein“, sagte Michel. Dem stimmte auch Lückemann zu: „Die genaue Beobachtung und der Mut, im Einzelfall einzugreifen, sind wichtig.“ Spätestens an diesem Punkt fühlten sich alle Beteiligten an die umstrittenen Zeitungszeugen des britischen Verlegers Peter McGee erinnert. Jede Woche werden in dieser Publikation unter anderem Faksimile von Original-Nazi-Blättern wie Völkischer Beobachter und Der Stürmer abgedruckt. Klagen gegen die Veröffentlichung sind allerdings vor Gericht abgewiesen worden. Dienen die Zeitungszeugen der Aufklärung oder der Verklärung? Über diese Frage gingen die Meinungen bei der Anhörung auseinander. Christian Kuchler vom Institut für Geschichte an der Universität Regensburg hat jüngst eine Studie zu dem Thema vorgenommen. Auch diese gelangt zu ambivalenten Erkenntnissen: Kuchler ließ die Schüler einer Hauptschule und eines Gymnasiums die zweite Ausgabe der Zeitungszeugen durchforsten. Darin wird der Reichtagsbrand aus dem Jahr 1933 in Zeitungsartikeln beleuchtet. Diese zeitgenössischen Beiträge stammen sowohl aus dem Nazi-Organ Völkischer Beobachter als auch aus der SPD-Zeitung Vorwärts und der anspruchsvollen Vossischen Zeitung. Hinzu kommt ein Mantelteil, in dem die Ereignisse und die Nazi-Propaganda kritisch kommentiert werden. „1933 war es kalt, die Mode schrecklich und das Theater offenbar angesagt“, so die Conclusio eines Schülers nach der Lektüre. Generell stellte Kuchler fest, dass sich die Lernenden im Alter von 14 bis 17 Jahren auffallend für die Werbung, die Sportberichterstattung und den Wetterbericht in den Zeitungen von damals interessierten. Dagegen hatten die Schüler Probleme die Frakturschrift der Faksimile zu entziffern. Außerdem: „Die Dechiffrierung des Propaganda-Stils ist nur wenigen gelungen“, berichtete Kuchler. Einige zeigten sich von ihr fasziniert. Als problematisch betrachtet Kuchler die Veröffentlichung von NS-Postern. Dem stimmten alle Experten zu. „Über einen Störer könnte man nachdenken“, sagte auch Peter Longerich, Direktor des Londoner Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History. Generell steht er den Zeitungszeugen aber positiv gegenüber. Den Wirbel um das Erscheinen besagter Publikation empfindet so mancher als Teil der Marketing-Strategie von Verleger McGee. Ähnlich geht es auch Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Zwar habe man die Zeitungszeugen abonniert, bislang aber nicht für pädagogische Zwecke eingesetzt. Als ein „artifizielles System mit Symbolwirkung, das entschlüsselt werden muss“, bezeichnet Roland Mangold, Medienpsychologe an der Stuttgarter Hochschule für Medien, besagtes Zeitungsprojekt. Es setze eine bestimmte Anstrengung voraus, um es überhaupt lesen zu können. Wer tatsächlich für Nazi-Propaganda empfänglich sei, käme im Internet an eingängigeres Material. Vergleichbar argumentierte auch Longerich: „Die Propagandawirkung solcher Schriften wird von der historischen Rezeptionswirkung nicht bestätigt.“ Die Affinität zu nationalsozialistischem Gedankengut knüpfe an vorhandene Vorurteilsstrukturen an. Max Mannheimer hatte das Schlusswort: „Aus meiner Lebenserfahrung sage ich, dass es nicht gut ist, wenn die Zeitungszeugen am Kiosk verkauft werden.“ (Alexandra Kournioti)

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