Leben in Bayern

Polizisten gingen am 25. Juni 1962 auf der Leopoldstraße in München brachial gegen randalierende Jugendliche vor. Bei den mehrere Tage andauernden sogenannten Schwabinger Krawallen kam es in der Umgebung der Ludwig-Maximilians-Universität immer wieder zu gewaltsamen Straßenschlachten zwischen Polizei und Protestierenden. (Foto: dpa/Gerhard Rauchwetter)

01.07.2022

"Dann hauten sie mit ihren Gummiknüppeln drauf"

Die blutigen Schwabinger Krawalle vor 60 Jahren gelten manchen Historikern als Vorbote der 68er-Bewegung – die Münchner Polizei änderte daraufhin ihre Taktik

Vor 60 Jahren kam es im Münchner Stadtteil Schwabing über Tage hinweg zu schweren Krawallen. Tausende vorwiegend junge Menschen protestierten auf der Leopoldstraße, blockierten den Verkehr, demolierten Autos und lieferten sich Handgemenge mit der Polizei. Die Beamten gingen äußerst brutal vor. Der heute 79-jährige Wolfram Kunkel wurde ebenfalls Opfer der Polizeigewalt.

Hinter ihm posieren gerade zwei japanische Urlauber vor dem „Walking Man“ – doch Wolfram Kunkel hat weder Augen für die Selfies knipsenden Touristen noch für die 17 Meter hohe Skulptur eines gehenden Menschen, die seit 1995 an der Leopoldstraße im Münchner Stadtteil Schwabing steht. Vielmehr ist der Mann mit den langen weißen Haaren, im Gesicht ein Rauschebart, auf dem Kopf ein Strohhut mit Feder, vollauf damit beschäftigt zu erzählen, was sich hier vor sechzig Jahren abgespielt hat. Und das wiederum tut Kunkel – ganz Schauspieler, der er ist – mit vollem Körpereinsatz.

„Es war der erste richtig schöne Tag im Jahr“

„Die Polizisten haben den Leuten erst den Arm auf den Rücken gedreht“, sagt der 79-Jährige und zieht dabei seine linke Hand mit der anderen in Richtung Schulterblatt. „Und dann“, fährt er fort und lässt seinen Arm wie ein Hackebeil mehrmals herabsausen, „hauten sie mit ihren Gummiknüppeln drauf. Zack, zack, zack.“ So sei das damals gewesen im Sommer 1962, sagt Wolfram Kunkel, während hinter ihm die zwei Touristen leicht verängstigt zu dem Luftlöcher schlagenden Mann hinüberblicken. „Die Polizisten haben total begeistert auf den Leuten rumgeklopft.“

Die Szenen, die Wolfram Kunkel schildert, sind Teil jener Unruhen in der Landeshauptstadt, die als „Schwabinger Krawalle“ in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Sie haben sich Ende Juni zum 60. Mal gejährt – ein Jubiläum, von dem kaum jemand Notiz nehmen wollte. Dabei gehören die Schwabinger Krawalle laut dem Historiker Detlef Siegfried von der Universität Kopenhagen „zu den herausragenden immateriellen Erinnerungsorten der Bundesrepublik – ein mythisches Ereignis, das das Ende der Adenauer-Ära und die Liberalisierung der Bundesrepublik anzuzeigen scheint“.

An fünf Abenden hintereinander liefern sich damals mehr als zehntausend meist junge Menschen regelrechte Straßenschlachten mit der Polizei – und das mitten in Schwabing. Die blutigen Ausschreitungen rund um die Leopoldstraße fordern zig Verletzte, Hunderte Personen werden festgenommen. Auch Anwohnende und Schaulustige, ja sogar Rentner und Frauen bekommen inmitten der Tumulte die Schlagstöcke der heillos überforderten Polizeibeamten zu spüren. Erst ein Wetterumschwung beendet die Schwabinger Krawalle, an deren Anfang fünf musizierende Teenager stehen. Unter ihnen war auch jener Wolfram Kunkel, der 60 Jahre später an den Ort des Geschehens zurückgekehrt ist.

Leidenschaftlicher Musiker

„Es war der erste richtig schöne Tag im Jahr, deshalb wollten wir nicht zu Hause proben“, erinnert sich Kunkel. Der damals 18-Jährige machte zu jener Zeit eine Feinmechaniker und war ein leidenschaftlicher Musiker. Seine Spezl und er zogen mit ihren Gitarren erst zum Monopteros in den Englischen Garten und dann, weil es dort zu voll war, weiter zur Leopoldstraße. Kaum eine halbe Stunde hätten sie gespielt, erzählt Kunkel – Blues und Volkslieder aus aller Welt, so wie immer. Rund um die fünf Musiker scharte sich eine stetig größer werdende Traube von Passant*innen, angezogen von den lockeren Klängen, vom lauen Sommerabend und von der laxen Atmosphäre auf der beliebten Flaniermeile.

„Das war ein einziges Geschiebe“, erzählt Wolfram Kunkel. „Das Trottoir war voll, und einige standen mit dem Arsch schon im Verkehr.“ Und doch bleibt alles friedlich. Jedenfalls so lange bis plötzlich ein Trupp Polizisten auftaucht, herbeigerufen von genervten Anwohnern. Nun geht alles ganz schnell: Ohne sich auf Diskussionen einzulassen und äußerst unsanft, so erinnert sich Kunkel, zerren die Beamten die fünf Teenager in einen Streifenwagen – unter dem Protest der aufgebrachten Menge.

Immer größer wird der Zorn der Leute, die bald schon am Polizeiauto rütteln und es in die Höhe heben; irgendjemand sticht die Reifen auf. Auf den Felgen zuckelt der Streifenwagen schließlich davon. Im Polizeiauto sind aber nur drei der fünf Jugendlichen, nachdem die anderen zwei erfolgreich ausgebüxt sind. „Die sind auf der einen Seite in die Funkstreife reingeschoben worden und auf der anderen Seite sofort wieder zur Tür raus“, sagt Kunkel und grinst.

Schlechtes Wetter kommt der Ordnungsmacht zu Hilfe

Im Davonfahren fordern die Beamten per Funk Verstärkung an, die in Form von mehreren Einsatzwagen mit Dutzenden Polizisten alsbald eintrifft. Diese bilden eine Räumkette, drängen die inzwischen mehr als 1000 Demonstrierenden beiseite und nehmen 40 Personen fest. Alle müssen ebenso wie Kunkel und seine Musikerkollegen eine Nacht im Polizeipräsidium verbringen. Um 1.40 Uhr endet der Einsatz, doch was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Diese erste unruhige Nacht ist nur der Auftakt zu weiteren Ausschreitungen.

So kommt es an den folgenden vier Abenden erneut zu Randalen – und zu Szenen, wie man sie im Nachkriegsdeutschland bis dato noch nicht gesehen hat: Tausende vorwiegend junge Menschen protestieren auf der Leopoldstraße, blockieren den Verkehr, demolieren Autos und liefern sich Handgemenge mit der Polizei. Diese reagiert mit äußerster Härte, kesselt die Massen ein und prügelt sich durch die Menge.

„Ich erinnere mich noch genau, wie berittene Polizisten durchs Siegestor gekommen sind“, sagt Wolfram Kunkel, den es damals Abend für Abend nach Schwabing zieht. „Sie sind mitten in die Menge hineingeritten und haben wahllos draufgehauen.“ Oder wie die Bild-Zeitung seinerzeit titelt: „Gummiknüppel flogen wie die Dreschflegel.“

Rabiates Vorgehen

Die Proteste sind weniger politisch motiviert; vielmehr rebellieren hier junge Menschen gegen die Obrigkeit– und gegen das rabiate Vorgehen der Einsatzkräfte, was das Geschehen nur noch weiter anstachelt. Dies erkennt man im Nachhinein auch im Münchner Polizeipräsidium, wo unter anderem als Folge der Schwabinger Krawalle eine neue Leitschnur für polizeiliches Handeln entwickelt wird: die sogenannte Münchner Linie.

Ihr zufolge sollen allzu martialische Auftritte der Einsatzkräfte in geschlossenen Formationen vermieden werden. Im Vordergrund stehen vielmehr Deeskalation und Kommunikation, unterstützt durch technische Neuerungen wie das Filmen und Fotografieren der Protestierenden sowie dem Einsatz von Polizeipsychologen – lange Zeit ein Novum in der Bundesrepublik. Diese neuartige Strategie gilt als einer der Gründe, weshalb die 1968er-Auseinandersetzungen in München deutlich harmloser abliefen als etwa in Berlin.

Wie die Schwabinger Krawalle historisch einzuordnen sind? Bei dieser Frage gehen die Meinungen auseinander. So bewerten einige Historiker*innen die Geschehnisse als Nachhall der sogenannten Halbstarken-Krawalle der 1950er-Jahre; andere sehen darin einen Vorboten der 1968er-Revolte. Rege debattiert wird auch über den Einfluss der Ereignisse auf den Werdegang des späteren RAF-Terroristen Andreas Baader, der die Proteste in München als damals noch weitgehend unpolitischer Teilnehmer miterlebt.

Ein Schockerlebnis

Dem Publizisten Butz Peters zufolge stellen die Schwabinger Krawalle „ein Schockerlebnis für den Neunzehnjährigen“ dar. Seiner Mutter soll er damals gesagt haben: „In einem Staat, wo die Polizei mit Gummiknüppeln gegen singende junge Leute vorgeht, da ist etwas nicht in Ordnung.“

Ganz ähnlich klingt das bei Wolfram Kunkel, wenn er rückblickend sagt: „Wir haben uns damals gedacht: Das gibt’s doch nicht, dass die da so völlig willkürlich vorgehen.“ Er selbst habe seinerzeit „nur ein paar blaue Flecken abgekriegt“, sagt er. Jedoch hätten ihn – und viele andere – die Schwabinger Krawalle insofern geprägt, als sie zu seiner Politisierung beigetragen hätten. „Die Zeit war damals reif, um mündig zu werden“, sagt Wolfram Kunkel, „und um diese Obrigkeitshörigkeit abzulegen.“

Fünf Tage lang dauern die Auseinandersetzungen in Schwabing, zu denen zunehmend junge Menschen aus halb Deutschland anreisen. Dann endet der Ausnahmezustand plötzlich – nicht zuletzt wegen eines Wetterumschwungs, der die Temperaturen von 30 auf 13 Grad abstürzen lässt.

Als die Polizei am sechsten Abend nach Schwabing ausrückt, ist die Leopoldstraße wie leer gefegt. Und an den Bäumen hängen Zettel mit der Aufschrift: „Wegen schlechter Witterung fällt das Polizeisportfest heute aus.“
(Patrik Stäbler)

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