Leben in Bayern

Als Aktion im Kontext des Ukraine-Krieges kreierten Schülerinnen und Schüler einer Mittelschule in Unterfranken Schilder, auf denen in verschiedenen Sprachen das Wort „Frieden“ steht. (Foto: Pat Christ)

22.07.2022

„Sind wir weiter Freunde?“

Der Ukraine-Krieg belastet die Stimmung in Klassenzimmern und Schulhöfen – russischstämmige Schüler*innen fühlen sich diskriminiert

Nach der Corona-Krise trübte zuletzt vor allem der Ukraine-Krieg die Stimmung in vielen Klassenzimmern. Lehrkräfte machen sich große Sorgen, dass in Bayerns Schulen, an denen viele Nationalitäten aufeinandertreffen, die Weltpolitik zunehmend das Klima zwischen vielen Kindern und Jugendlichen vergiftet. Da werden schon einmal Friedenstauben heruntergerissen oder es wird über das Ausmalen von Fahnen gestritten.

Als der benachbarte Supermarkt zu Beginn des Krieges Schokolade, Feinkost und Spirituosen aus Russland aus den Regalen verbannte, waren die russischstämmigen Schüler*innen von Julia Heider zutiefst empört. „Sie haben sich ausgegrenzt und diskriminiert gefühlt“, berichtet die Jugendsozialarbeiterin an einer Mittelschule in Ingolstadt. Überhaupt habe plötzlich eine ganz merkwürdige Stimmung geherrscht. Julia Heider arbeitet an einer Schule, an der 400 Jungen und Mädchen aus 30 verschiedenen Nationen unterrichtet werden. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, deren Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, ist relativ hoch.

Buntheit bedeutet, dass es nicht den einen einzigen Sittenkodex gibt, nach dem sich alle haargenau richten. In der Schule, in der Julia Heider tätig ist, kam man mit der bunten Schülermischung in den letzten Jahren dennoch gut zurecht. Durch den Krieg in der Ukraine traten nun Konflikte auf, die es so bisher noch nicht gegeben hat. Julia Heider schildert ein Beispiel: „Einzelne Lehrer haben Friedenstauben gedruckt und aufgehängt, die von einigen der russischstämmigen Schüler abgerissen wurden.“ Auch waren die Jungs sauer wegen aufgemalter Ukraine-Flaggen: „Sie wollten auch die russische Flagge malen, weil sie sagten, auch die russische Bevölkerung sei ein Opfer des Krieges.“

„In Sippenhaft genommen“

In Einzelgesprächen lässt Julia Heider die russischstämmigen Kinder und Jugendlichen ihre Ansichten darstellen. Dabei stößt sie auf ein Dilemma: „Wir in Deutschland glauben das, was unsere Medien berichten, und so glauben die Jugendlichen aus den Familien, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, was im russischen Fernsehen berichtet wird.“ Julia Heider hört sich an, was die Teenager erzählen: „Sie haben schließlich ein Recht auf ihre Meinung.“ Zu argumentieren, hat sie festgestellt, ist äußerst schwierig. Denn wo finden sich in deutschen Medien schon einmal vollständige Übersetzungen der Reden und Statements russischer Politiker?

Julia Heider war es anfangs wichtig, sich bewusst zu machen, in welche schwierige Lage die aus Russland stammenden Schülerinnen und Schüler nach Ausbruch des Krieges geraten waren. Die Jugendlichen hatten mitunter das Gefühl, in „Sippenhaft“ genommen zu werden: „Doch man kann einen 14-Jährigen nicht dafür verantwortlich machen, was im Donbass passiert.“ Die Sozialpädagogin erinnerte sich daran, dass Deutsche in anderen Teilen dieser Welt bis heute generell als „Nazis“ angesehen werden. Als würde jemand, der heute 30 oder 40 Jahre alt ist, etwas dafür können, was zwischen 1933 und 1945 an Grauenvollem geschehen ist.

Gerade in der aktuellen Krisenzeit ist es von Vorteil, dass inzwischen an vielen Schulen in Bayern Jugendsozialarbeiter in die Kollegien integriert wurden. Julia Heider gehört dem JaS-Team der Caritas-Kreisstelle Ingolstadt an. Ihre Kollegin Melanie Tretter aus dem Caritas-Team ist in einer Ingolstädter Grundschule tätig. Dort gibt es inzwischen eine Willkommensgruppe für ukrainische Kinder. Und es gibt russischsprachige Jungen und Mädchen. Alles in allem geht es wesentlich ruhiger zu als an der Mittelschule. „Es gibt allerdings einen ukrainischen Schüler, der immer wieder durch antirussische Äußerungen auffällt“, berichtet Melanie Tretter.

Oft müssen sich Jugendsozialarbeiter*innen und Lehrkräfte mit Blick auf den Krieg erst mal daranmachen, basale Informationen zu vermitteln. Zu unterscheiden ist natürlich, wie alt die Schüler sind und um welche Schulart es sich handelt. „Wenn man mit unseren Schülerinnen und Schülern ins Detail geht, wird schnell klar, dass wenig Hintergrundwissen da ist und wahrscheinlich nur die pauschalisierte Meinung der Eltern weitergegeben wird“, sagt Andrea Mösch. Die Sozialpädagogin gehört dem diakonischen Jean-Paul-Verein in Bayreuth an. Eingesetzt ist sie an einem Sonderpädagogischen Förderzentrum der Stadt am Roten Main.

Die Kinder bekommen mit, dass in der Ukraine täglich Menschen sterben, dass Erdöl und Gas knapp zu werden drohen und der Krieg weltweit alles durcheinanderwirbelt. Gespräche unter Schülern bleiben nicht aus. „Auch ich bekomme Diskussionen zwischen prorussischen und pro-ukrainischen Schülern mit“, sagt Andrea Mösch. Daraus seien jedoch noch keine Konflikte entstanden. Im Übrigen litten einige Kinder schon vor dem Ukraine-Krieg darunter, dass ihre Eltern verfeindeten Kulturen angehören. „Ich habe zwei Schüler, die sich gut verstehen, aber privat nichts mehr miteinander unternehmen dürfen, weil die eine Familie türkisch und die andere kurdisch ist.“

Kerstin Jobst machte in ihrem 2015 erschienenen Buch Geschichte der Ukraine aus der Reihe „Reclams Ländergeschichten“ darauf aufmerksam, dass damals, also vor sechs Jahren, bereits fünftausend Menschen im Osten der Ukraine getötet worden waren. Berichte über den Ukraine-Konflikt fanden zu jener Zeit allerdings noch kaum Aufmerksamkeit in der Bevölkerung. Aber auch über Kriege in anderen Ländern wurde bislang kaum so intensiv berichtet wie nun über den Ukraine-Krieg. Darüber beklagte sich kürzlich der syrische Vater eines Schülers in jener Schule, in der Andrea Mösch tätig ist. „Er sagte, dass auch in Syrien alles zerstört sei, dass das aber niemanden hier interessiere.“

In der Bayreuther Mittelschule, in der Andrea Möschs Kollegin Juliane Kohlschmidt vom Bayreuther Jean-Paul-Verein als Jugendsozialarbeiterin eingesetzt ist, sind interkulturelle Begegnungen etwas ganz Normales. Der Ukraine-Krieg sei nur in den ersten Wochen ein sehr präsentes Thema gewesen, sagt sie: „Viele Kinder hatten Angst vor dem, was kommen könnte, der Gesprächsbedarf war groß.“ Mehrere russischstämmige Kinder seien verunsichert gewesen, wie sie sich jetzt verhalten sollten: „Sie fragten sich, ob die anderen noch mit ihnen befreundet sein wollen.“ Inzwischen habe sich dies wieder gelegt. Der Alltag sei zurückgekehrt.

„Viele Kinder hatten Angst“

Nach Juliane Kohlschmidts Beobachtung wurde an ihrer Schule nicht einmal am Anfang erbittert über Recht und Unrecht, Gut und Böse in Bezug auf den Ukraine-Krieg gestritten. „Sicherlich gab es Schüler und Schülerinnen, die mehr mit Russland oder mehr mit der Ukraine sympathisiert haben“, sagt sie. Daraus hätten sich aber keine harten Fronten gebildet.

Anja Kellig, Jugendsozialarbeiterin in einem Gymnasium im Landkreis München, beobachtet an ihrer Schule, dass russischsprachige Kinder mit großer Hilfsbereitschaft und Langmut Neuankömmlingen aus der Ukraine beim Übersetzen helfen. Die Stimmung an der Schule sei in Bezug auf den Krieg in keiner Weise „aufgeregt“, so die JaSlerin vom Kreisjugendring München Land. Einmal sei nach Unterrichtsende auf rein freiwilliger Basis eine Friedenskette gebildet worden. Von den 1400 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums hätten sich etwa 1000 beteiligt.

Die Aussage, dass der Krieg in der Ukraine auch die Gesellschaft hierzulande massiv spaltet, lässt sich in Bezug auf Schulen nicht generalisieren. Auffällig ist, in welchem Maße sich gerade Jugendsozialarbeiter darum bemühen, Konfliktfelder rechtzeitig zu entdecken und für eine friedliche Atmosphäre zu sorgen. Bei Gesprächen mit den JaSlerinnen und JaSlern ist immer wieder zu hören, dass Kinder und Jugendliche ermutigt werden, zu sagen, was sie denken. Und dass keine Meinungen aufgezwungen werden. Ähnliches berichten auch Lehrkräfte. Damit unterscheiden sich Schulen wohltuend von so manchen konfrontativen und bisweilen regelrecht aggressiven Talkshows.

Der Anteil jener Kinder, die aufgrund des Ukraine-Krieges den Schulfrieden ernsthaft stören, scheint homöopathisch zu sein. Jugendsozialarbeiter an Schulen fangen Konflikte zwischen Kindern aus prorussisch sowie Kindern aus proukrainisch eingestellten Familien frühzeitig auf. Der Krieg, sagt Julia Heider aus Ingolstadt, sollte das wichtigste Ziel der Schule nicht unterminieren: „Wir wollen gemeinsam in Harmonie leben und lernen.“

Weil das Lernen den Dreh- und Angelpunkt des Schullebens darstellt, werden nun auch die drohenden finanziellen Folgen der aktuellen Weltkrise auf die Menschen in Bayern in einem Projekt zur Alltagskompetenzvermittlung aufgegriffen. Dabei geht es laut Julia Heider darum, Siebtklässler im Umgang mit Geld zu schulen. Auch ein 13-Jähriger, so die Jugendsozialarbeiterin, könne mithelfen, die eigene Familie finanziell zu entlasten.  (Pat Christ)
 

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