Leben in Bayern

Ingenieur Ralf Breker lässt im Full-Body-Scanner eine fotorealistische digitale Kopie von sich erstellen – die dann an einem virtuellen Tatort ermitteln kann. (Foto: Stumberger)

12.01.2024

Der Avatar-Kommissar geht um

Das Bayerische Landeskriminalamt arbeitet jetzt mit virtuellen Tatorten – wie funktioniert das?

Eigentlich sieht es aus wie in einem Science-Fiction-Film: Ingenieur Ralf Breker betritt den Raum, der an eine Weltraumkapsel erinnert. Im Inneren findet sich eine Vielzahl schwarzer Linsen in ovalen Öffnungen, dann schließt sich die Tür. Breker steht jetzt in einem fotogrammetrischen Full-Body-Scanner mit 70 Kameras, der innerhalb von Sekunden eine fotorealistische, digitale Kopie eines Menschen erzeugen kann – einen sogenannten Avatar. Wir sind im Bayerischen Landeskriminalamt (LKA) an der Münchner Maillingerstraße, und hier wird die Zukunft erprobt: Kriminalkommissare, die als Avatare in virtuellen Tatorten unterwegs sind.

Auf dem gleichen Stockwerk wie der Körperscanner befindet sich ein paar Schritte entfernt ein weitgehend leerer, kahler, 70 Quadratmeter großer Raum mit grauem Fußboden. Hier geschehen seltsame Dinge. Jedenfalls, wenn man eine der 3D-Brillen aufsetzt, die von der Decke baumeln. Dann ist man zum Beispiel in der S-Bahnstation am Münchner Stachus. Es ist der 28. November 2021, gegen 15.20 Uhr. Auf dem Bahnsteig kommt es zum Streit zwischen zwei Männern. Der eine ist schwergewichtig, der andere eher schmächtig. Dann fährt die S8 in Richtung Flughafen ein. Der Schwergewichtige umklammert jetzt den anderen, zerrt ihn zur Bahnsteigkante und stößt ihn vor den Zug. Das 38-jährige Opfer fällt auf das Gleisbett und kann sich gerade noch in einen Hohlraum neben den Gleisen retten, doch die S-Bahn trennt ihm den Unterschenkel ab.

Die Zukunft der Kriminalarbeit

Ein Tathergang, wie er wirklich passiert ist. Und wie er nun im Holodeck des LKA dreidimensional nachgestellt werden kann. Das hier ist die Zukunft der Kriminalarbeit. Das Kriminaltechnische Institut des LKA umfasst zwölf Sachgebiete, dort sind derzeit 220 Mitarbeiter*innen beschäftigt. In der physikalischen und der chemischen Abteilung geht es zum Beispiel um die Spurensicherung oder um die Analyse von Materialien, die in einem Kriminalfall eine Rolle spielen. Die 16 Beschäftigten der Abteilung forensische Medientechnik (Forensik steht für die wissenschaftliche und technische Untersuchung krimineller Handlungen) sind mit vielfältigen Aufgaben beschäftigt, zum Beispiel dem Abfotografieren von Tatorten. Aber es geht auch um die Analyse von Videos, etwa wenn man herausfinden will, ob diese echt oder gefälscht sind. Und bereits seit 14 Jahren werden Tatorte nicht nur fotografiert, sondern auch mit einem 3D-Laserscanner vermessen.

In der Eingangshalle des LKA ist so ein Gerät zu sehen: „Laserscanner sind digitale, mobile Messgeräte zur räumlichen, dreidimensionalen Abtastung von Oberflächengeometrien“, ist dazu als Erklärung zu lesen. Dabei wird der Laserstrahl über einen rotierenden Spiegel vertikal ausgesendet, während sich der Scanner gleichzeitig horizontal um seine eigene Achse dreht. Das Ergebnis ist eine sogenannte 3D-Punktwolke, die ein exaktes Abbild des Raumes ermöglicht. „Mit dem Scanner haben wir eine Reichweite von 300 Metern“, sagt Ingenieur Breker. Er hat Geomedientechnik studiert und leitet die forensische Medientechnik des LKA.

3 Minuten Scan für 40 Millionen Messpunkte

Der Scanvorgang wird mehrmals wiederholt. Ist der Tatort zum Beispiel eine Dreizimmerwohnung, benötigt man dafür acht bis zehn Scans, was aber ziemlich schnell geht: Ein Scan dauert 3 Minuten. Heraus kommt eine Datenwolke mit 40 Millionen Messpunkten. Und diese Daten sind die Grundlage für die virtuellen Tatorte. Im Falle des Münchner S-Bahnhofs wurden diese Daten noch ergänzt durch Videoaufnahmen vom Bahnsteig – sie werden in die räumliche Struktur hineingerechnet – und durch Bewegungsdaten der einfahrenden S-Bahn, also Geschwindigkeit, Abbremsung, Stillstand. Zusammengenommen entsteht so ein exaktes, virtuelles Bild des Tatorts, das über die 3D-Brille eingesehen werden kann.

Aber das Holodeck bietet noch viel mehr. Als Avatar kann sich Ralf Breker innerhalb dieses Szenarios bewegen, als wäre er wirklich vor Ort. Von außen sieht das dann so aus: Er stapft in dem leeren Raum des Holodecks umher und vollführt seltsame Bewegungen mit seinen Armen. Im Inneren begeht der Ingenieur aber den für andere nicht sichtbaren Tatort, kann dabei sogar fliegen und die ganze Szene von oben betrachten oder auch hinunter auf die Gleise hüpfen und sich überfahren lassen, ohne Schaden zu nehmen.

In Deutschland gibt es noch nichts Vergleichbares

Doch damit nicht genug. Breker könnte auch mit anderen Avataren direkt am Tatort unbeantwortete Fragen diskutieren, mit ihnen um Säulen am Bahnsteig herumgehen oder Entfernungen abmessen und Sichtachsen begutachten. Diese anderen Avatare sind ebenfalls über den Körperscanner entstanden. Dann befragt der Münchner Kommissar den Zeugen, der zum Beispiel in Hamburg sitzt, aber als Avatar im virtuellen Tatort anwesend ist, gleichzeitig ist auch der Sachverständige aus Karlsruhe als Datenwolke mit dabei. Was sonst nur mit hohem Aufwand zu realisieren ist, ist über das Holodeck des LKA leicht möglich.

Es ist übrigens das erste polizeiliche Virtuelle-Realität-Labor in Deutschland. Die Entwicklung der Software beruht auf sogenannten Game-Engines, also Plattformen, mit denen Computerspiel-Welten erzeugt werden. Hier ist es aber „ein völlig neues Arbeitsumfeld“, sagt Breker. „Mit dem Einsatz von revolutionären Technologien betreten wir ein neues Terrain der Digitalisierung, das hinsichtlich seiner durchdringenden Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft die erste Phase der Digitalisierung bei Weitem in den Schatten stellen wird“, heißt es dazu in einer Broschüre des LKA. (Rudolf Stumberger)
 

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