Leben in Bayern

Der Poesie-Briefkasten hängt seit 2013 im Münchner Stadtteil Giesing. Kleines Bild: Katharina Schweissguths Schweissguth sammelt die Texte. (Fotos: Alexander Heinl/dpa)

20.03.2017

Der Briefkasten der anonymen Dichter

Für die Schublade haben wohl viele schon mal geschrieben. In München kann man auch für den Kasten dichten. Wer will, hinterlässt seine literarischen Versuche an einer verschwiegenen Adresse - und kommt vielleicht in der nächsten U-Bahn-Station groß raus

Katharina Schweissguth und ihre Mitstreiter haben eine Mission - "dass das Leben insgesamt etwas poetischer wird". Erreichen will die Grafikerin aus München das mit ihrem Poesie-Briefkasten. Der hängt seit 2013 im Münchner Stadtteil Giesing, orangerot, und nimmt alles entgegen, was die Menschen unter Lyrik verstehen. Jeder kann dort seine literarischen Werke einwerfen. Schweissguth sammelt die Texte, einem breiteren Publikum werden sie dann durch Aktionen im öffentlichen Raum nahegebracht: an U-Bahn-Stationen, auf einer Verkehrsinsel, im Männerwohnheim. Schweissguth interessiert sich für Sprache, für die Darstellung von Poesie, und "hatte das Gefühl, dass das oft etwas sehr Intimes ist" - also schuf sie eine Möglichkeit, Gedichte anonym abzugeben. Ursprünglich als Projekt mit einer Stadtteilinitiative gestartet, stieß der Kasten bald auf Resonanz. Nach zwei Monaten zählte Schweissguth 60 Gedichte. Persönliche Worte der Hobby-Literaten veranlassten die Grafikerin, ein Treffen der Dichter zu veranstalten.

Rauslassen, was an Lyrik in einem steckt

Auch heute noch gebe es einen harten Kern und einen eigenen Verein, berichtet die "Poesiebotin". Aber auch neue Gesichter kämen hinzu. Waren es anfangs noch mehr Ältere, die ihre Werke dem Briefkasten anvertrauten, sind heute alle Altersgruppen vertreten, beobachtet Schweissguth. "Neulich kam ein Brief von einer "fast Zwölfjährigen", das ist schon ziemlich jung." Am anderen Ende der Skala dichtet eine 94-Jährige. Und auch von der Bildung her unterscheiden sich die Poeten deutlich. "Wir wollen nichts Wissenschaftliches sein", betont Schweissguth. Und so schickt zwar auch ein Deutschlehrer seine Verse, es findet sich aber beispielsweise auch ein junger Mann "ohne gute Ausbildung", ständig auf Jobsuche, der darüber schreibt, wie er bei der Suppenküche ansteht. Was motiviert die Menschen, ihre Texte einzuwerfen? Viele hätten schon immer geschrieben, erzählt Schweissguth, und beim Poesie-Briefkasten gehe es nicht darum, neue Lyrikgenies zu entdecken. Sondern darum, "rauszulassen, was an Lyrik in einem steckt". Gezeigt werden die Gedichte dann etwa in einem literarischen Adventskalender in einer U-Bahn-Station, oder sie werden auf einer Verkehrsinsel an Bäume gehängt, wie die Grafikerin berichtet. Mehr als 600 Gedichte sind inzwischen zusammengekommen, auch Dramatiker Franz Xaver Kroetz habe am Anfang ein "Exklusivgedicht" geschickt. In einer Buchveröffentlichung sind auch Liedermacher Konstantin Wecker und Schriftsteller Friedrich Ani als Autoren aufgeführt. Gibt es also keine Geringschätzung ihres Projektes durch die großen Namen? "Ich fühle mich nicht belächelt", unterstreicht Schweissguth, und überhaupt sei viel Potenzial bei den Briefkasten-Poeten vorhanden.

Beherrschendes Thema: Die Liebe, vor allem die unerfüllte

Verschiedene Sprachen sind vertreten, das meiste kommt auf Deutsch herein, aber auch Englisch ist dabei, Bairisch, Bulgarisch, Rumänisch, zweisprachig, je nach Herkunft. Beherrschendes Thema ist die Liebe, vor allem die unerfüllte, sagt Schweissguth. "Was mich persönlich sehr berührt: Die Menschen verarbeiten schwierige Situationen mit Poesie." Der junge Mann in der Suppenküche, ein alter Mann, der eine schwierige Untersuchung im Krankenhaus vor sich hatte und dennoch humorvoll darüber schrieb, Trauergedichte, politische Gedichte. "Eine tolle Idee", findet auch Christiane Raabe, Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek in München. Das Schreiben und Einwerfen der Gedichte sei offenbar eine "kreative Art des therapeutischen Schreibens". Gerade Lyrik für Kinder werde immer mehr zum Trend - und auch von Kindern: "Kinder haben wahnsinnig Lust am Reimen." Für Hasstiraden wurde der Briefkasten noch nicht missbraucht, sagt Schweissguth, auch nicht für "Blödsinn". Besonders berührt hat sie ein Gedicht eines Angehörigen von Demenzerkrankten. "Statt einem Kopf thront hier ein Loch" - grotesk, doch irgendwie wahr, ein bitteres Schmunzeln auslösend. Dichtet die Erfinderin des - wie sie selbst sagt - wohl deutschlandweit ersten und einzigen Briefkastens mit Postadresse nur für Lyrik auch selbst? Seltenst, sagt sie. (Martina Scheffler, dpa)

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