Leben in Bayern

Zum Nichtstun verdammt: Spielleiter Christian Stückl. Nichtstun aber ist bei ihm freilich relativ. (Foto: Dominik Baur)

29.05.2020

Der Messias kommt nicht

Die 42. Passionsspiele wären es in diesem Jahr nun geworden, doch sie sind angesichts der Corona-Pandemie verschoben – ein Besuch in Oberammergau

Eben noch eine der größten Touristenattraktionen der Welt, ist Oberammergau jetzt nur noch ein nettes kleines Dorf. Die berühmten Passionsspiele, die ohnehin nur alle zehn Jahre stattfinden – abgesagt. Schuld: natürlich das Coronavirus. Doch mit Seuchen kennt sich Oberammergau aus.

Auf den ersten Blick könnte man Oberammergau für ein Dorf wie so viele andere halten, die man hier am Fuße der Alpen trifft. Postkartenidylle vom Feinsten, Katzen, die träge das Trottoir entlangwandern und eine beeindruckende Herrgottschnitzerdichte – rund 60 sollen es in der 5500-Einwohner-Gemeinde sein.

Natürlich entdeckt man die Corona-Folgen auch hier: Beim Naturkostladen stehen die Kund*innen an diesem Morgen draußen auf der Straße Schlange – mit Maske und Abstand. Die größte Folge der Krise ist aber das, was man eben nicht sieht: die Tausenden von Menschen, die das Dorf in diesem Sommer Tag für Tag besucht hätten, die vollen Hotels, die vollen Wirtshäuser, die vollen Straßen und natürlich: das volle Passionstheater.

Die Passionsspiele, die sonst alle zehn Jahre aufgeführt werden, deretwegen die New York Times noch Anfang des Jahres Oberammergau zu den 52 sehenswertesten Orten der Welt gerechnet hat, sie finden in diesem Jahr nicht statt. Als die Verschiebung der Spiele bekanntgegeben wurde, titelte das örtliche Garmisch-Partenkirchner Tagblatt: „Oh Herr, wie blutet mir das Herz ...“

Pest: Die Passion ist durch eine Seuche entstanden

2500 Menschen beteiligen sich an den Spielen, das halbe Dorf. Und doch werden sie heute mit keinem Namen so stark in Verbindung gebracht wie mit dem von Christian Stückl – Jesus einmal ausgenommen. Beginnen wir den Versuch einer Annäherung an dieses Spektakel, das man in seiner Unwissenheit irgendwo zwischen Bauerntheater, Woodstock und Fronleichnamsprozession verorten könnte, also am besten mit einem Besuch bei Christian Stückl.

Der 58-Jährige sitzt am Besprechungstisch seines Büros im Passionstheater. Hohe Decken, zwei Schreibtische, sonst ist es hier recht schmucklos. Die offene Flügeltür geht direkt zur Straße. Seit den Passionsspielen von 1990 ist Stückl Spielleiter. Eigentlich würde man seiner heute nicht habhaft werden. Acht Tage wären es nur noch bis zur Premiere. An diesem Tag wäre die erste öffentliche Generalprobe gewesen, erzählt Stückl.

Man kennt Stückl als einen, der ständig unter Strom ist. Und jetzt sitzt er hier in seinem Büro und ist zum Nichtstun verdammt. Das Nichtstun ist bei einem wie ihm freilich relativ. Gerade ist er dabei, ein Konzept zu erarbeiten, wie es am Münchner Volkstheater in Corona-Zeiten weitergehen könnte, dessen Intendant er im Hauptberuf ist. Außerdem schreibt er an einem Buch über die Geschichte der Passionsspiele.

Stückl muss erst einmal ein halbes Dutzend Feuerzeuge durchprobieren, bis er eines findet, das funktioniert. Er zündet sich eine Zigarette an. Es wird die erste von insgesamt 13 während des anderthalbstündigen Gesprächs sein.

Stückl ist in einem Oberammergauer Wirtshaus aufgewachsen, sein Großvater hat schon bei den Passionsspielen mitgemacht, sein Vater auch. „Ich hab‘ im Chor gesungen, ich war hinter der Bühne, vor der Bühne, überall.“ Mit 16 gründete Stückl seine erste eigene Theatergruppe und wusste: „Ich werde mich irgendwann mal als Passionsspielleiter bewerben.“

Das „Irgendwann“ trat dann schon 1987 ein. Mittlerweile Regieassistent an den Münchner Kammerspielen, bewirbt sich der gerade einmal 24-Jährige – und wird gewählt. Mit neun zu acht Stimmen votiert der Stadtrat für ihn.

Zwei Monate ist es jetzt her, dass sie die letzte große Probe gemacht haben. Das Coronavirus war da schon das beherrschende Thema, eine Woche später wurden in Bayern die Schulen geschlossen. Mit 400 Leuten stand Stückl an diesem Tag auf der Bühne. Und da sei ihm schon etwas mulmig geworden, erzählt er. Als sie dann in den nächsten Tagen Aufnahmen für den Bildband zu den Passionsspielen gemacht haben, kamen schon immer mehr Telefonanrufe: Sag mal, Christian, muss ich da wirklich kommen? Weißt du, ich gehöre zur Risikogruppe ... „Und dann habe ich das erst mal abgebrochen.“

Es ist ja schon eine recht symbolische Sache, dass es ausgerechnet ein Virus ist, das der Passion den Garaus gemacht hat. Schließlich war es auch eine Seuche, der Oberammergau seine größte Attraktion überhaupt erst verdankt. 1633 war das, mitten im Dreißigjährigen Krieg. Damals wütete die Pest in der Gegend, kostete auch so manchen Oberammergauer das Leben. Da legten die Bewohner*innen des Dorfes ein Gelübde ab: Sie versprachen, alle zehn Jahre ein „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ aufzuführen, falls die Pest sie fortan verschonen sollte. Und von diesem Tag an, so heißt es, habe es kein Opfer der Pest mehr gegeben.
Die Oberammergauer*innen hielten ihr Versprechen. 1634 wurden die Passionsspiele zum ersten Mal aufgeführt – auf dem Friedhof. Auf einer provisorischen Bühne über den Gräbern der Pesttoten. Schon im 18. Jahrhundert sollen Gäste aus ganz Deutschland gekommen sein.

Haar- und Barterlass: Auch Stückl hat unterschrieben

Wie sehr die Passionsspiele den Ort prägen, steht den Oberammergauern schon lange Zeit im Voraus ins Gesicht geschrieben, zumindest den Männern. Am Aschermittwoch des Vorjahrs tritt der „Haar- und Barterlass“ in Kraft. Wer auf der Bühne mitwirkt, ist angehalten, sich Haar und Bart wachsen zu lassen. Ausgenommen ist nur, wer einen Römer spielt oder hinter den Kulissen bleibt. Auch Christian Stückl, der sich in den Massenszenen immer wieder mal unters Volk mischt, hat sich dem Erlass unterworfen.

Die 42. Passionsspiele wären es in diesem Jahr nun geworden. In einer rund fünfstündigen Aufführung hätten die Oberammergauer die Geschichte Jesu erzählt, vom Einzug in Jerusalem bis zur Kreuzigung und Auferstehung. Nicht mehr auf dem Friedhof, sondern auf der Freilichtbühne des 1890 erbauten Passionstheaters. Im Hintergrund das Bergpanorama.

Für Stückl wären es die vierten Spiele im Amt geworden. Viel hat er bewegt in den Jahren als Spielleiter – nicht immer zur Freude des gesamten Dorfes. So habe 1990 der katholische Pfarrer eine Unterschriftensammlung gegen ihn gestartet, erzählt Stückl und zitiert deren ersten Satz: „Eine gotteslästerliche Jugend bemächtigt sich der Bühne. Das muss verhindert werden.“ 1800 Oberammergauer haben unterschrieben. Für die anderen ist Stückl der Mann, der endlich die nötigen Reformen umsetzt und eine hohe künstlerische Qualität gewährleistet. Als ihm für das Jahr 2000 die CSU im Gemeinderat die Gefolgschaft verweigern will, wird er gegen deren Willen per Bürgerentscheid ins Amt gehievt.

Stückl: „Mir sind ein paar Tränen weggeschossen“

Donnerstag, 19. März, vor dem Theater. Anton Speer, der Landrat, spricht es offiziell aus: Die Passionsspiele sind verschoben. Neuer Termin: 2022. Als Stückl dann das Wort ergreift, überkommt es ihn. „Als ich die ganzen jungen Spieler gesehen habe, wie sie da ums Theater rumgestanden sind, sind mir ein paar Tränen weggeschossen.“ Eine Fernsehjournalistin ist so begeistert, dass sie ihn hinterher fragt, ob er nicht fürs Interview noch mal ein bisschen weinen könne. Nein, das könne er nicht, sagt Stückl.

Sophie Schuster ist eine dieser Jungen, sie hätte die Maria Magdalena spielen sollen. „Da wird einem schon der Boden unter den Füßen weggerissen“, erzählt sie. „Mein Jahr war komplett durchgeplant. Da steht man erst mal da und schluckt.“

Die 24-Jährige sitzt im leeren Zuschauerraum, während einige Bühnenarbeiter die Kulissen abbauen. Schuster ist gelernte Bankkauffrau, studiert gerade Marketing an einer Fernuniversität. Wenn die Oberammergauer*innen sich für die Teilnahme an den Spielen anmelden, dürfen sie Rollenwünsche angeben. Schuster schrieb ihre Traumrolle in das Formular: Maria Magdalena. „Ich bin nie davon ausgegangen, dass ich die Rolle krieg’.“ Doch als dann an einem Herbsttag 2018 die Namen der Hauptdarsteller*innen feierlich und in Schönschrift auf zwei Tafeln vor dem Theater geschrieben wurden, war sie eine der beiden Frauen, die Maria Magdalena spielen dürfen. „Da hab‘ ich mir schon gedacht: Okay, krass!“

Die Passionsspiele sind längst auch bei den jungen Oberammergauer*innen wieder angesagt. Landflucht ist hier nicht das große Thema. Und wer weggezogen ist, kommt oft sogar nur für die Passionsspiele ins Dorf zurück. Schuster zieht es nicht weg. „Hier kennt man die Leute und grüßt sich auf der Straße. München wäre mir viel zu hektisch.“ Wie die große, weite Welt ja ohnehin völlig überschätzt wird. Wozu sollte man raus in die Welt, wenn die ganze Welt doch zu einem kommt?
Dass dem so ist, ist nicht zuletzt dem Briten Thomas Cook zu verdanken. Der Vater der Pauschalreise sitzt 1880 im Publikum und ist begeistert. Fortan organisiert er im großen Stil Reisen zu den Passionsspielen. Die Passion wird zur Touristenattraktion für Engländer und Amerikaner und zum Geschäft für die Oberammergauer.

Das ist es bis heute geblieben. Rund hundert Aufführungen gibt es pro Spieljahr, 450 000 Tickets. Aber nicht nur der Gemeinde brechen jetzt die Einnahmen weg. Das ganze Dorf hatte sich auf die Passionstourist*innen eingestellt.

Man muss ja nur einmal die Theaterstraße runtergehen bis zur Alten Post und sich mit Pontius Pilatus treffen. Der sitzt in der leeren Gaststube, heißt im bürgerlichen Leben Anton Preisinger und muss jetzt erst einmal zwei Jahre warten bis zu seinem großen Auftritt als römischer Statthalter. Preisinger gehört die Alte Post, er hätte nun viel Zeit, sich um seine Gäste zu kümmern. Nur: Welche Gäste? „Wir haben einen Buchungsstand von null“, sagt er.

Oberammergauer Wirte hatten kräftig investiert

Die Alte Post ist vermutlich das älteste Gasthaus in Oberammergau, das Hauptgebäude ist knapp 500 Jahre alt, die Preisingers haben es seit Ende des 19. Jahrhunderts in Familienbesitz. 38 Zimmer. 250 Restaurantplätze. Auch Preisinger hat jetzt vor der Passion noch mal investiert, Restaurant und Zimmer renoviert, neue Badezimmer einbauen lassen – alles in allem 300 000 Euro. Außerdem hat er die Mitarbeiterzahl für das Jahr von 30 auf 45 aufgestockt. Die ersten haben schon im Dezember angefangen, wurden angelernt. Diese Mitarbeiter*innen musste Preisinger jetzt wieder entlassen, die Stammbelegschaft in Kurzarbeit schicken. Zumindest gibt es für die Oberammergauer Wirte eine Perspektive: das Jahr 2022. „Wenn alles gut läuft“, sagt der 51-Jährige, „gibt es dann einen gewissen Ausgleich.“

Überhaupt sind die meisten Oberammergauer*innen froh, dass es schon 2022 und nicht erst 2030 weitergeht. „Ich glaub’ auch, dass die Zeit schneller vergeht, als man denkt“, sagt Sophie Schuster, die wie alle Darsteller*innen ihre Rolle behalten darf.

Für andere jedoch sind zwei Jahre eine sehr lange Zeit. An dem Tag, an dem er schließlich die Fotoaufnahmen abgebrochen hat, erzählt Christian Stückl, sei eine 85-jährige Frau auf ihn zugekommen und habe gesagt: „Dankschön für die schöne Zeit noch, aber die nächste Passion werde ich jetzt nimmer schaffen. Schad.“
(Dominik Baur)

Fotos (Dominik Baur):
Gibt Pontius Pilatus: Anton Preisinger vor seinem Gasthaus.
Hätte die Maria Magdalena spielen sollen: Sophie Schuster.

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