Leben in Bayern

Anna Schärmann mit dem Drehbuch zu ihrem Videoclip zum Würzburger Messerattentat. (Foto: Pat Christ)

23.07.2021

Die Filterblasen zum Platzen bringen

Die Würzburgerin Anna Schärmann (20) engagiert sich seit Jahren für Demokratie – jetzt will sie Nachdenk-Videos zur Messerattacke in ihrer Stadt drehen

Mit 16 Jahren entdeckte Anna Schärmann die Würzburger Initiative pics4peace. Ein Ziel des Projekts, das die ehemalige Oberbürgermeisterin Pia Beckmann 2017 ins Leben rief: Junge Leute sollen die Angst vor der eigenen, laut geäußerten Meinung durch Kunst überwinden. Anna hat das längst geschafft: Mit ihrem neuesten Filmprojekt will sie gegen Rassismus kämpfen und zur Solidarität mit den Opfern der Würzburger Messerattacke aufrufen.

Als Zwölfjährige erhielt sie durch die Kindernachrichten im Fernsehen eine leise Ahnung, was Demokratie bedeutet. Mit 16 Jahren wachte Anna Schärmann endgültig politisch auf. Zufällig kam sie damals in Kontakt mit dem Würzburger Projekt „pics4peace“. Hier engagieren sich junge Menschen kreativ für Frieden und Demokratie. Das tat Anna in den letzten Jahren in vielfältiger Weise. Aktuell arbeitet die 20-Jährige an einem Videoclip, der zur Solidarität mit den Opfern des Würzburger Messerattentats aufruft.

In den letzten fünf Jahren habe sie eine innere Wandlung durchgemacht, verrät Anna. „Richtig schüchtern war ich nie, aber früher hätte ich mich nicht getraut, vor Leuten zu stehen und meine Meinung zu sagen“, erklärt die Würzburgerin. Bei mehreren öffentlichen Aktionen von pics4peace, unter anderem auf der Frankfurter Buchmesse, tat sie inzwischen ihre Meinung kund. Auch, was die Messerattacke von Würzburg anbelangt, hat Anna eine klare Meinung. Die Tat des jungen Somaliers, betont sie, sei in keiner Weise zu verharmlosen. Dennoch dürfe sie kein Grund für Rassismus sein. Die vielen rassistischen Kommentare zu Berichten über die Attacke hätten sie geschockt, sagt die junge Frau.

Anna will, dass die Menschen aus ihrer Apathie erwachen und aktiv werden. In einem ersten Videoprojekt im Zusammenhang mit dem Amoklauf in und vor dem Würzburger Woolworth wirbt sie für Mitgefühl mit den Opfern. Das mit Bleistift skizzierte Drehbuch für den Clip ist inzwischen fertig, in Kürze beginnen die Dreh- und Schneidearbeiten. „Man wird am Anfang zwei Schatten sehen, dann ist einer weg“, schildert Anna. Lilli, ihre Freundin, wird danach erscheinen. Lilli würde sich gerne einen Coffee to go kaufen: „Doch dann kommt sie auf die Idee, dass es doch viel besser wäre, das Geld für die Opfer zu spenden.“ Etwa für das kleine Mädchen, dessen Mutter getötet wurde.

„Auch ich lebe in einer Bubble“, gesteht Anna

Für Anna ist es völlig gleichgültig, woher ein Mensch kommt. Ob er aus einer anderen Stadt stammt. Aus einem anderen Land. Von einem anderen Kontinent. Das sehen viele Leute anders. Rassismus greift um sich. Das macht der jungen Frau Sorgen. Was tun? Anna findet das eine extrem schwierige Frage. „Keinen Sinn macht es in meinen Augen, nun den X-ten Anti-Rassismus-Workshop zu organisieren“, sagt sie. Da nähmen doch wieder nur jene teil, die sowieso antirassistisch eingestellt sind. Persönlich kennt Anna im Übrigen kaum Leute, die etwas gegen Ausländer haben. Was kein Wunder ist. Gleiches zieht Gleiches an: „Auch ich lebe in einer Bubble.“

Anna wird sich mit diesem Problem sicher noch eine Weile befassen. Zum Glück hat sie im Moment Zeit. Denn das Lehramtsstudium, in das sie vor einem Jahr startete, hat sie nach dem zweiten Semester gecancelt. Anna hatte bisher rein online studiert. Das sei nicht einfach gewesen, sagt sie. Die junge Frau zweifelte aber auch zunehmend daran, dass Grundschullehrerin das wäre, was sie für den Rest ihres Lebens glücklich machen würde. „Im Moment denke ich darüber nach, Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Film und Fotografie zu studieren“, sagt sie. Dass sie hierfür ein Händchen hat, beweisen ihre auf Youtube abrufbaren Videoclips. Etwa jener, der sexuelle Gewalt thematisiert.

Ob man etwas tut oder nicht, das sei nicht jedes Bürgers und jeder Bürgerin ureigenste Sache. Davon ist Anna inzwischen zutiefst überzeugt. Demokratie funktioniert nach ihrer Ansicht nicht nur über Wahlen. Demokratie erfordert Bürger*innen, die sich einbringen. Vorbild ist für Anna Würzburgs ehemalige Oberbürgermeisterin Pia Beckmann (CSU). „Das ist einfach eine Wahnsinnsfrau“, ruft sie voller Bewunderung aus. Beckmann war es auch, die Ende 2017 pics4peace ins Leben rief. Mit dem Ziel, junge Leute zu animieren, über Frieden, Freiheit und Demokratie nachzudenken. Sich zu engagieren. Und sich zu artikulieren. „Wir müssen wieder lernen zu diskutieren“, sagt Beckmann. In der Cafeteria oder im Bus, auf der Straße oder in der Kneipe den Mund aufzumachen, wenn sich jemand diffamierend oder abwertend äußert.

Den Mund aufzumachen mit dem Ziel, ins Gespräch zu kommen, das ist gar nicht so leicht. Bei einer Feier hat Anna das vor Kurzem selbst erlebt. Ein älterer Bekannter, wohl so Anfang 70, äußerte sich gegen Ausländer. Anna war mit ihrer 13 Jahre alten Schwester anwesend. Die beiden Mädels guckten sich an. Anna traute sich schließlich zu fragen: „Meinst du das wirklich?“ Immerhin: Der Mann fuhr nicht empört auf. Er begann auch nicht, für seine Meinung zu fechten: „Sondern er murmelte nur was Unverständliches.“ Ein Gespräch aber war nicht möglich.

In der Schule fand Anna auf viele Fragen keine Antworten

Andere Teenies nehmen nicht alles gleich so tragisch. Lass die Leute halt blöd schwätzen! Was bringt es, sich einzumischen? Das macht doch nur schlecht drauf. Anna kann nicht so sein. Und sie will es auch nicht. Sie sieht sich in eine Welt gestellt, in der Tausend Fragen drängen. Fragen, auf die es auch in der Schule meistens keine Antwort gab. Klimawandel, Hungersnöte, Krisen und Kriege – aber im Gymnasium wird Stochastik gepaukt. „In der Oberstufe hab ich dann oft geschwänzt, weil ich den Unterricht als Zeitverschwendung angesehen hatte“, gibt Anna zu und lächelt. Sie hat dann nicht relaxt. Hing nicht im Café herum. Sondern dachte nach.

Wer es sich leicht macht, kommt zum Schluss, dass die da oben an allem schuld sind, was mies läuft. Für Anna ist das Quatsch. Es sind die Menschen, die Dinge tun oder Dinge unterlassen und so die Gesellschaft gestalten. Glasklar wird das für sie am Beispiel Drittes Reich. Wie viele Studierende beteiligten sich zum Beispiel an der Bücherverbrennung, fragt sie. Im Oktober 2018 nahm Anna in Frankfurt am Main anlässlich des Gedenkens an die Bücherverbrennung an einer pics4peace-Kunstintervention mit dem Künstler Winfried Muthesius für die Freiheit des Wortes teil. Das Projekt zog Parallelen von dem, was damals passiert war, mit dem, was heute geschieht.

Anna hat es geschafft, ihre Ängste vor der eigenen, laut geäußerten Meinung zu überwinden. Das brachte ihr inzwischen Anerkennung ein. 2019 erhielt sie den mit 500 Euro dotierten „Young Women in Public Affairs Award“, gestiftet vom Zonta Club Würzburg, der soziales Engagement von Jugendlichen würdigt. 2018 durfte sie im Auftrag von pics4peace eine Podiumsdiskussion mit der Schriftstellerin Tanja Kinkel und dem Künstler Muthesius zu den Themen Demokratie und Meinungsfreiheit moderieren. Auch konnte sie schon im Bayerischen Rundfunk über ihr Demokratie-Engagement sprechen.

Angesichts der Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft wird für Anna eine Frage drängender denn je: Wie kann man Menschen erreichen, die feindselig gegenüber anderen eingestellt sind? Ihr nächstes Video zum Thema Rassismus im Kontext des Würzburger Messerangriffs will sie definitiv nicht für jene machen, die sowieso schon auf der „guten Seite“ stehen. Sondern für die anderen.
(Pat Christ)

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