Landmarken, das können hohe Bauwerke wie der Münchner Olympiaturm oder hervorstechende Landschaftsmarkierungen wie der Klammerfels im Bayerischen Wald sein. Sie sind von verschiedenen Stellen aus gut sichtbar und eignen sich deshalb zur Orientierung am Boden, auf See und in der Luft.
Darüber hinaus verleihen sie einem Ort oder einer Region oftmals ein Stück weit Identität. In Ingolstadt haben Kunstschaffende den Begriff jetzt auf den urbanen Raum übertragen.
Im vergangenen Jahr erlebte das Projekt mit dem Titel „Landmarks“ hier seinen Auftakt. Diesen Sommer wurde es fortgesetzt. Dabei geht es nicht darum, ein neues architektonisches Superlativ in Form eines Wolkenkratzers aus dem Boden zu stampfen.
Vielmehr dreht sich bei Landmarks alles um die Kunst am Bau. Eintönige Häuserwände werden von Mural-Artists, wie die Fassadenkünstler in der Szene heißen, zu großformatigen Leinwänden umfunktioniert. Auf ihnen entstehen in tagelanger Arbeit gegenständliche und abstrakte Bilder, die Spielraum für Interpretationen lassen.
Die Vision hinter dem Projekt: die Förderung der visuellen Stadtentwicklung. Durch die Wandbilder werden neue visuelle Wegmarken geschaffen, die zur Identitätsausbildung des Stadtbildes und letztlich auch einzelner Viertel beitragen, heißt es von den Initiatoren. Ihr Ziel ist es, Ingolstadt als junge, urbane Stadt darzustellen, sagt Daniel Lange, der künstlerische Leiter des Projekts.
Eine Galerie im öffentlichen Raum
Nicht zuletzt aber entsteht so nach und nach eine Galerie im öffentlichen Raum, die zum Betrachten einlädt. Und das kommt bei den meisten Bewohner*innen gut an, wie die Erfahrungen zeigen.
Die Werke tragen Namen wie "Blue Vibes", "Escape from old ideas" und "Wir werden sehen". Mal blickt darauf eine junge Frau im leger übergestreiften Hemd und mit verschränkten Armen scheinbar in Gedanken versunken auf ihr Viertel an der vielbefahrenen Münchner Straße. Woanders, im von der Autoindustrie geprägten Nordwesten der Stadt, rauschen stürmische Wogen eines surreal anmutenden Ozeans über die Stirnseite eines Wohnblocks hinweg.
Die Künstler*innen, die bisher an Landmarks mitgewirkt haben, genießen in der Szene Ansehen. Zu ihnen zählten im vergangenen Jahr der Franzose Shane, der Berliner Akut und der Münchner Raphael Gerlach (SatOne), der auch Kurator von Landmarks ist.
Heuer griffen drei Mural-Artists zu Pinsel und Spraydose, um der Stadt einen neuen Anstrich zu verpassen. Neben Taxis aus Athen und Bosoletti aus Florenz lebt, wurde mit Julia Benz erstmals eine Künstlerin nach Ingolstadt geholt. Benz, die in Heidelberg und Berlin lebt, hat ihr Studium der Malerei als Meisterschülerin abgeschlossen. Bilder von ihr schmücken Wände in Helsinki, Bangkok und Fortaleza in Brasilien.
An der Goethestraße, einer großen Einfallstraße in einem Mischgebiet im Nordosten von Ingolstadt, entstand an einem Wohn- und Bürohaus das Werk mit dem Arbeitstitel "Temper". Es ist eines der wenigen abstrakten Bilder, die bisher im Rahmen des Projekts entstanden sind und basiert auf einem Leinwandwerk der Künstlerin, wie sie sagt.
„Es handelt sich um eine Momentaufnahme aus meiner Studioarbeit. Die große Herausforderung dabei ist, Pinselstriche, die im Kleinen aus einer Handbewegung heraus entstehen, auf ein riesiges Format zu übertragen“, erklärt sie.
Dazu sei es notwendig, das Werk auch aus der Distanz zu betrachten. Für sie heißt das, ihren Arbeitsplatz auf der Hebebühne immer wieder einmal zu verlassen und in die Straßenperspektive zu wechseln. Das fertige Bild beschreibt sie als ein Spiel mit Schichten, versehen mit Kontrasten von Sanftheit und Klarheit. Dabei treten ihr zufolge Ebenen, die zuerst im Hintergrund gewesen seien, während der Entstehung in den Vordergrund.
Wie die meisten in der Urban-Szene lässt auch Benz sich vom Umfeld der Fassade inspirieren. „Mich interessiert zunächst der Kosmos der Wand und ich lasse auf mich wirken, was im Viertel passiert. Dabei habe ich festgestellt, dass sich die Leute hier über Farbe freuen“, sagt sie.
Die Fassaden werden nicht so schnell ausgehen
Tatsächlich dauert es nicht lange, bis ein Passant stehen bleibt und die noch unfertige Wand bestaunt. „Klasse“, sagt der Mann, der sich als Innenarchitekt vorstellt, mit hochgerecktem Daumen. Eine Frau, die im Haus gegenüber arbeitet, sieht zur Tür heraus und zeigt sich erfreut: „Jetzt haben wir etwas Schönes zum Ansehen.“
Solche Erfahrungen kann Daniel Lange bestätigen. Der Ingolstädter ist selbst Künstler und weiß deshalb aus eigener Praxis, was dem Publikum gefällt und was nicht. „98 Prozent der Leute finden das toll, würde ich behaupten.“ Es gebe Leute, die kämen immer wieder vorbei, um zu sehen, wie sich die Bilder während des Schaffensprozesses entwickelten.
Wichtig sei neben dem künstlerischen Aspekt die hohe Sichtbarkeit der Fassaden, betont er. Sie sollen im übertragenen Sinne ja als Landmarken dienen und können bei Wegbeschreibungen nützlich sein. Frei nach dem Motto: Wo ich wohne? Immer der blauen Fassade nach.
„Es ist ein Eingreifen in die Wahrnehmung, aber als schöner Moment“, sagt er. Positiv bewertet er, wie unbürokratisch das Projekt an den Start gehen konnte. Andere Städte seien da nicht so offen. Auch müssten die Kunstschaffenden keine Entwürfe einreichen. Die künstlerische Freiheit wiegt demnach hoch, solange es nicht politisch, rassistisch oder anstößig wird.
Sieben Häuserfassaden sind inzwischen gestaltet. Geht es nach Lange und seinen Unterstützer*innen, zu denen der Stadtjugendring (SJR) und das städtische Kulturreferat gehören, sollen weitere folgen. Die Fassaden gingen über Jahrzehnte nicht aus, teilt der Kooperationspartner, die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GWG) Ingolstadt, mit. Sie stellt die Wände zur Verfügung.
„Kunst am Bau ist für uns fester Bestandteil unseres baukulturellen Auftrags. Unsere Wohngebäude erhalten dadurch eine zusätzliche Aufwertung und für die Bewohnerinnen und Bewohner erhöht sich die Identifikation mit „ihrem“ Quartier“, sagt eine Sprecherin der GWG. Zudem habe man die Erfahrung gemacht, dass bisherige wilde Graffiti oder Schmierereien an der und um die professionelle Wandgestaltung aus Respekt vor der Kunst komplett ausgeblieben seien. (Michael Brandl)
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