Leben in Bayern

Tausende haben das Zuhause von Anni Sigl im Bayerischen Wald schon besucht. Und viele greifen gerne auf ihre Fähigkeiten als Baumveredlerin zurück. (Foto: Bäumel-Schachtner)

27.09.2024

Ein karges, aber glückliches Leben

Die 88-jährige Anni Sigl ist in ganz Bayern als Baumveredlerin gefragt – zu Hause ist sie in einem alten Bauernhaus ohne fließendes Wasser und Heizung

Anni Sigl tritt aus der Haustür ihres uralten Bauernhauses in Hilgenreith, hoch über Innernzell im Landkreis Freyung-Grafenau, und schlüpft in die alten blauen Plastik-Clogs. Sie schirmt mit ihrer rechten Hand die Augen ab und blickt auf ihren Obstgarten. Zufrieden nickt die 88-Jährige. Die Äpfel-, Birnen- und Zwetschgenbäume tragen eine schwere Last. Auch heuer wird die Ausbeute wieder gut sein, und auf ihrem alten Holzofen wird dann Marmelade vor sich hin köcheln, bevor sie von Händen, die von jahrzehntelanger harter Arbeit erzählen, in große Gläser abgefüllt wird. Sie geht zu „ihrem“ Baum, den sie selbst gezüchtet hat. Er trägt die Apfelsorte, die ihren Namen hat – „Anni Sigl“.

Dafür hat sie die Apfelsorten Topaz und Rubinola miteinander gekreuzt. Heraus kam eine Frucht, die robust und säuerlich ist: eine Frühwintersorte, die mit dem Klima im Bayerischen Wald gut zurechtkommt. Viel Lob und Anerkennung hat sie dafür bekommen. Auch er offenbart schon viele kleine Früchte, die bald geerntet werden können, wenn sie rote Backen bekommen.

Genau 99 Bäume stehen auf ihrem Grund und Boden. Sie tragen insgesamt 171 Sorten. Doch das reicht Anni Sigl nicht, sie braucht noch mehr Grün um sich herum. Sie wendet sich vom Obstgarten ab und geht mit immer noch zügigen Schritten zum Gemüsegarten. Das hölzerne Türchen schwingt auf und die frühere Bäuerin zeigt stolz das, was sie gesät hat und bald ernten wird: Salat in Reih und Glied, von Schnecken verschont, gelbe Rüben, deren Kraut grün aus der Erde sprießt, und buschige Petersilie.

Nur auf Strom will sie nicht verzichten

Auch Exotisches befindet sich in ihrem Garten. Zum Beispiel eine Johannisbeersorte aus Tschechien und andere Gewächse von weiter her. Die Pflanzen aus aller Herren Länder sind ziemlich die einzige Extravaganz, die sich die Witwe gönnt. Ansonsten lebt sie karg, aber glücklich. Der alte Flur führt rechts in eine große Stube. Hier schläft Anni Sigl in einem fein säuberlich aufgeschüttelten Federbett. Über ihr hängt der Abrisskalender, immer auf dem neusten Stand, den Tag und seine kommenden Pflichten schon um fünf Uhr morgens im Blick, wenn sie die stets griffbereite Taschenlampe einschaltet. Der Kalender verdeckt ein Stück alte, grün-weiße Tapete.

In der anderen Ecke wohnt sie. Ein Ecktisch bietet auch Besuchern Platz, das alte Porzellan für sie ist poliert und ohne Makel, und auf dem Fenstersims steht die Kaffeemaschine – denn ohne Strom muss und möchte Anni Sigl trotz aller Bescheidenheit nicht sein. Doch ihr Herd, auf dem sie in ihrer Stube auch kocht, wird mit Holz beheizt und macht zudem das alte Bauernhaus warm. Denn eine Zentralheizung ist nicht vorhanden, auch kein fließendes Wasser. „Das brauche ich auch nicht, ich hole es mir von draußen, das ist mir lieber“, sagt sie im Brustton der Überzeugung.

Und auch in der Stube muss es nicht so warm sein: „Ich habe im Winter 17 bis 18 Grad, das reicht mir. Ich vertrage die Wärme nicht.“ Natürlich kennt sie auch das Leben, das andere in unserer Zeit führen – zum Beispiel von ihren vier Söhnen. Ist sie dort zu Gast, dann sehnt sie sich aber wieder nach Hause zurück. „Ich mag Luxus nicht, ich kann damit nichts anfangen“, erklärt sie resolut.

Sie trägt Kittelschürze statt Kenzo-Designerklamotten. Und sie will auch kein modernes Bad. Tag für Tag wäscht sie sich im Trog vor dem Haus. „Angenehm kalt“ ist das Wasser ihren Worten nach. Einmal in der Woche wird sie von Sohn Alois und Schwiegertochter Claudia abgeholt und nimmt in deren Haus ein Bad. Danach freut sie sich wieder auf daheim.

In diesem Daheim hat sie früher nicht allein gelebt. Ehemann Alois teilte das einfache Leben bis vor vier Jahren. Ganz friedlich sei er eingeschlafen, sagt die Witwe mit Tränen in den Augen und gibt zu: „Da fällt man schon erst einmal in ein Loch.“ Doch das Leben musste weitergehen. Das Federvieh hat sie abgeschafft, auch wenn sie an Gänsen, Enten und Hühnern große Freude hatte. Die Obstbäume und der Gemüsegarten sind geblieben und haben Anni Sigl in ganz Bayern berühmt gemacht.

Immer wieder wird sie mit dem Auto abgeholt, um Bäume zu veredeln. Nicht nur im ganzen Bayerischen Wald kommt sie herum, sondern auch im Münchener Raum. So hat sie im Landkreis Ebersberg eine Frau glücklich gemacht, bei der die Veredelung vorher nicht klappte. Wie das geht, hat die kleine Anni im Alter von acht Jahren schon von ihrem Vater gelernt und in jahrzehntelanger Arbeit perfektioniert. Dass es mal nicht funktioniert, kommt so gut wie gar nicht vor. Mehrere Tausend „fremde“ Zweige hat sie schon auf Obstbäume aufgesetzt.

Die Erinnerungen an ihr Leben passen in einen Schuhkarton. Anni nimmt den Deckel ab und holt Foto um Foto heraus. Zum Beispiel ein Hochzeitsbild mit ihrem Alois von 1961. Seine und ihre Mutter kannten sich schon lange, im Bus von Passau zurück in den Bayerwald hat es dann gefunkt und sie ist zu ihm auf das Anwesen gezogen, das heute ihr schlichtes Zuhause ist. Dafür gab sie ihr Leben in München auf.

Sie baute als Trümmerfrau München wieder mit auf

In der Landeshauptstadt arbeitete sie erst in der Gastwirtschaft, dann sechs Jahre in einem Wohnheim einer Schule für Arbeiter aus der Baubranche, dann einige Zeit als Schwesternhelferin in einem Krankenhaus. In den 50er-Jahren hat sie auch als Trümmerfrau emsig mitgeholfen, München von den Resten des Zweiten Weltkriegs zu befreien.

Nach dem Umzug aufs Land hatte sie erst einmal große Sehnsucht nach München. Doch fürs Grübeln war nicht viel Gelegenheit. Ihr Mann arbeitete auswärts, er war beim Straßenbau. Sie schmiss daheim die Landwirtschaft, bewirtschaftete den Hof, bediente die Maschinen und zog die vier Buben groß. Harte Arbeit hat sie geprägt, schon von Kindesbeinen an. Heute müssten die Menschen viel zu wenig leisten, bekrittelt sie. „Wenn ich im Fernsehen sehe, was die für Probleme haben, dann sage ich, die bräuchten mal wieder eine richtige Arbeit“, sagt sie streng und zieht die Stirn in Furchen.

Aus dem Pappkarton zieht sie ein weiteres Foto. Es ist einige Jahre alt, man sieht sie auf ihrem Traktor sitzen. Es könnte auch ein aktuelles Bild sein, denn sie fährt immer noch. Im vergangenen Jahr schleppte sie aus dem eigenen Wald die ganzen Käferbäume mit dem Bulldog heraus, richtete das Holz zum Verkauf her und machte aus dem Rest Brennholz.

Rast und Ruhe gönnt sie sich selten. Wenn im Sommer Obst und Gemüse geerntet werden, dann wird es verarbeitet. 45 große Gläser Marmelade hat sie im vergangenen Jahr eingekocht und sie verbraucht sie alle selbst. Gurken raspelt sie klein und friert sie ein. „Die sind zwar ein wenig lätschert, aber ich kann eh nicht gescheit beißen“, sagt sie.

Ein Fernsehbeitrag machte sie bekannt

Ihr fehlen die Zähne, Ersatz kann sie nicht bekommen, da sie auf das Metall und den Kunststoff allergisch ist. Anni Sigl hat damit kein Problem. Sie lächelt dennoch gerne und häufig und schenkt auch ihren Gästen einen freundlichen Gesichtsausdruck.

Vor einigen Jahren drehte der Bayerische Rundfunk einen Beitrag über sie und ihren Alois. Seither sind viele gekommen, um sie kennenzulernen. Das schnurlose Telefon klingelt immer noch häufig. Ihre Haustür hat sie immer gerne geöffnet. Tausende seien schon dagewesen, schätzt sie. Sie ist fast eine Berühmtheit geworden. Das freut Anni Sigl – aber sie bleibt dennoch bescheiden und lebt ihr stilles, reiches Leben, in dem die Arbeit die Hauptrolle spielt. (Melanie Bäumel-Schachtner)
 

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