Für die meisten Menschen in Oberbayern ist es ein ganz normaler Werktag – für die Tölzer aber ist der 6. November einer der wichtigsten Tage im Jahr: Leonhardi. Die Geschäfte bleiben geschlossen, es ist Feiertag – und dies im doppelten Wortsinn. In der Früh säumen tausende Zuschauer den Zugweg der berühmten Leonhardifahrt, bestaunen die historischen Wagen, bewundern die kunstvollen Trachten und drücken den „Rosserern“, welche die prächtigen Pferde der Gespanne in Zaum halten, die Daumen, dass die Tiere ihre Aufgabe auch diesmal wieder mit der ihnen eigenen Ruhe bewältigen. Nach Ende der Wallfahrt zu Ehren des Heiligen Leonhard wird in den Gaststätten gefeiert – ausgelassen und nicht selten feuchtfröhlich.
Was den angereisten Schaulustigen als farbenprächtiges Spektakel erscheinen mag, ist für die Isarwinkler gelebte Tradition. Die Besinnung auf jahrhundertealtes Brauchtum. Auf einem der Wagen mitzufahren, ist eine Ehre und eigentlich jungen Burschen und Madln oder gestandenen Trachtlern und Trachtlerinnen vorbehalten. Nur wenige Kinder schaffen es, einen Platz auf einem der beiden Tafelwagen zu ergattern, die ausschließlich für die Kleinen reserviert sind. Lediglich 36 Kinder – bei insgesamt fast 1000 Teilnehmern – dürfen diese Erfahrung machen, die sie ihr Leben lang wohl nicht vergessen werden. Und die, so hofft es zumindest Margot Strötz, dazu beiträgt, dass auch sie später einmal die Tradition bewahren und weiterführen werden.
Strötz führt das pittoreske Hotel Kolbergarten in Bad Tölz, und ist seit 1968 für einen der 80 Truhen- und Tafelwagen, die die Tölzer Leonhardifahrt zu einer der größten Obernbayerns machen, verantwortlich. Von Beginn an, also seit 159 Jahren, ist dieser Wagen im Besitz des Posthotels Kolberbräu fester Bestandteil des Zuges und für 28 Kleine und Kleinste reserviert. Die Zeiten, in denen nur Ur-Tölzer mitfahren durften, sind längst passé. Heute kommen die Kinder aus dem gesamten Isarwinkel. Auch nach der Religionszugehörigkeit fragt hier niemand – „der liebe Gott macht da keine Unterschiede“, erklärt Strötz augenzwinkernd. Auch zwei türkische Kinder sind schon einmal mitgefahren. Sobald ein Kind still sitzen kann, darf es dabei sein.
Es gibt schon mal ein Probesitzen und die Kindel malen ihre Namen auf die Plätze
Noch steht der Darstellungswagen – so genannt wegen des Aufbaus: ein Nachbau der originalen Zwieselalm – etwas nackt im Hof des Hotels. Erste Fichtenzweige zieren die Seitenstreben; erst nach und nach wird er mit weiteren Zweigen und Blumen geschmückt. Die Kinder und ihre Eltern werden dabei tatkräftig mithelfen – so war es schon immer. Aber weil die meisten der Mütter und Väter arbeiten und sich die Zeit für das Schmücken freischaufeln müssen, kommt jeder so, wie er es sich einrichten kann. Und so dauert das Dekorieren über eine Woche.
Doch ein Tag ist gesetzt, wer da nicht erscheint, muss auf seine Teilnahme verzichten: der Sonntag vor Leonhardi – da ist „Probesitzen“. Dabei geht es nicht etwa darum, zu schauen, ob die Bank bequem ist (ist sie

nicht), sondern um die heiß umkämpfte Sitzordnung. Manche Eltern sähen ihren Nachwuchs gerne in der ersten Reihe, gleich unter dem gekreuzigten Jesus – das macht sich als Fotomotiv am besten. Aber da lässt sich Margot Strötz nicht reinreden. Größere müssen neben Kleinere, die Mischung von Buben und Mädchen muss stimmen. Die ganz Kleinen sitzen am Almhäuschen und halten sich an eigens angebrachten Streben fest. Die Kinder merken sich ihre Position und malen anschließend ihren Namen auf den ihnen zugedachten Platz auf der Bank.
„Das Probesitzen ist ganz wichtig“, so Wagenchefin Strötz. Am Leonharditag in der Früh um 8 Uhr, wenn sich der Wagen Richtung Aufstellungsplatz im Kurviertel in Bewegung setzt, muss jeder wissen, wo er hingehört. Da ist keine Zeit mehr für Diskussionen.
Auch die Plätze neben und vor der Miniatur-Zwieselalm sind begehrt. Scheidet ein Kind aus, stehen schon mehrere auf der Warteliste. Bei manchen Familien ist die Teilnahme aber auch quasi vererbt – wie bei den Wiedemanns, alteingesessene Tölzer Geschäftsleute. Florian Wiedemann schaut von weitem zu, wie sein Sohn Quirin (4) den Wagen erklimmt und sich einen Platz im Schutz der kleinen Hütte sucht. Schon Florians Großvater ist als Kind auf dem Wagen mitgefahren – weiter in die Vergangenheit kann sich selbst Frau Strötz nicht mehr erinnern.
Ein Platz auf dem Wagen ist sehr begehrt – es gibt sogar eine Warteliste
Für die 64-jährige Hotelchefin ist das Fest rund um den Schutzpatron der Landwirte eine Herzensangelegenheit. „Wir brauchen den Spirit des Heiligen Leonhard dringender denn je“, findet sie. In Zeiten, in denen Tiere für so manchen nur noch als eingeschweißte Filetstücke in der Kühltheke von Bedeutung sind und Menschen eine christliche Wallfahrt als Gelegenheit für Trinkgelage missverstehen, möchte die Tölzerin dem Nachwuchs die Werte vermitteln, die für sie selbst innere Heimat bedeuten. Also versammelt sie die Kinder um sich und erzählt ihnen von dem Heiligen und seinen Verdiensten um das Wohl von Mensch und Vieh. Es ist die Rede von Nächstenliebe und Mitgefühl und die Kinder hören gebannt zu. Anschließend folgt der pragmatische Teil: kein Getobe und Gaudi auf dem Wagen, Sicherheit ist oberstes Gebot, festhalten und auf die Kleineren achten! Kinder wie Eltern wissen: Wer sich nicht an diese Regeln hält, ist das letzte Mal auf dem Kolberbräu-Wagen mitgefahren.
Ist der Leonharditag gekommen, wird Margot Strötz schon seit vier Uhr auf den Beinen sein und den Rosserer Max Genosko aus Niederbayern mit seinen sechs prächtigen Kaltblut-Hengsten erwarten. Sie schwört auf den erfahrenen Pferdeführer, obwohl er nicht aus dem Oberland ist – etwas, das in Bad Tölz nicht so gerne gesehen wird. „Mir geht es vor allem um die Sicherheit der Kinder“, verteidigt Strötz ihre Wahl. Denn niemand habe seine Rösser so gut im Griff, findet sie. Stolz erzählt sie, wie der Wagen auch am Berg ohne Bremsklötze stehen und wieder anfahren kann. Alle werden schon vor Beginn der Wallfahrt bewirtet und mit guten Wünschen versehen.
Hat sich der Zug erst in Bewegung gesetzt, geht die Hotelchefin alleine auf den Kalvarienberg, um sich die Segnungsprozession anzuschauen. Diese Zeit ist nur für sie reserviert, eine Gelegenheit der Einkehr und Besinnung an diesem trubeligen Tag. Pünktlich vor der Rückkehr des Wagens wird sie wieder zurück sein, die Bewirtung aller vorbereitet haben und die Kinder voller Ungeduld erwarten. „Das ist für mich der schönste Moment des Jahres und Lohn für jede Mühe“, erzählt sie: Wenn der Wagen mit den Kindern auf den Hof einbiegt. Jede Aufregung und Anspannung ist verflogen, die Augen der Kleinen leuchten, die Gesichter strahlen. Und dann ist sich Margot Strötz sicher, dass der Samen, den sie bei den Buben und Mädchen zu säen versucht, aufgehen wird. (
Gabi Peters)
Bild: Es ist ein großer Tag für die Freundinnen Mia und Lilli (beide 6 Jahre alt) aus Lenggries; Foto: Peters
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