Leben in Bayern

Die vier vom Münchner Anti-Klassismus-Referat (von links): Markus Striese, Mira Vaassen, Stephanie Krallinger und Niclas Vaccalluzzo. (Foto: Stumberger)

11.02.2022

Es kommt noch immer auf die Eltern an

Studierende kämpfen gegen Benachteiligung an der Uni durch ihre soziale Herkunft: An der LMU in München gibt es das erste Anti-Klassismus-Referat Bayerns

Nein, Klassismus hat nichts mit den dorischen Säulen und steinernen Reliefs des Klassizismus zu tun. Sondern mit Sprache, Kleidung, Geld. „Die Uni“, sagt Markus Striese, „ist schon eine ganz andere Welt.“ Eine andere Welt jedenfalls als jene, die er bis vor ein paar Jahren kannte. Der 32-Jährige stammt aus München-Neuperlach, der Vater war zuletzt Lkw-Fahrer. Striese selbst ist mit seinem Hauptschulabschluss ein Exot unter den Studierenden, die zum größten Teil aus Akademikerfamilien stammen. Seit Beginn des Wintersemesters ist er zusammen mit vier Vizes für das Anti-Klassismus-Referat an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) zuständig. Grob gesagt geht es um den Kampf gegen die Benachteiligung durch die soziale Herkunft.

Hochschulen haben ihre eigene Studierendenvertretung, den Konvent der Fachschaften. Der wählt oder genehmigt auf Antrag die Einrichtung von Referaten. So gibt es an der LMU etwa ein Referat für Umwelt oder für Gleichstellung. Und nun eben auch eines für Anti-Klassismus. Es wurde im Oktober 2020 gegründet und versteht sich als Interessenvertretung der Studierenden, die aufgrund ihrer Klassenposition und -herkunft von ungleichen Teilhabechancen und Teilnahmeressourcen betroffen sind: etwa Arbeiterinnen und Arbeiterkinder, Working Poor, Studierende mit Hartz-IV-Erfahrung. Es geht also um Studierende, die nicht aus einem akademischen Elternhaus stammen, und um deren spezielle Erfahrungen an der Uni.

Markus Strieses Eltern sind Nichtakademiker. Nach der Hauptschule absolvierte er eine Lehre als Groß- und Einzelhandelskaufmann, machte dann seinen Abschluss als Betriebsinformatiker. Und fing danach sein Studium der empirischen Kulturwissenschaften und Soziologie an. Mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ist es in Bayern möglich, auch ohne Abitur zu studieren – über den drittem Bildungsweg. Freilich aber ist das auch ein steiniger Weg. Gerade die ersten Semester waren für Striese hart. Nicht nur, weil er nebenbei arbeiten musste. Die Leute an der Universität sprachen eine andere Sprache, trugen eine andere Kleidung und hatten andere Erfahrungen aufzuweisen – zum Beispiel durch Reisen. „Mittlerweile falle ich an der Uni nicht mehr so groß auf“, sagt Student Striese. Was aber nach wie vor gilt: Die Kommiliton*innen Strieses haben mehr Zeit für ihr Studium.

„Wir wollen eine Anlaufstelle für andere Studierende aus Arbeiterfamilien sein“

Wenn man aus sogenannten einfachen Verhältnissen oder bildungsfernen Schichten, wie es im Soziologendeutsch heißt, kommt, hat man es nicht leicht, an der Uni Fuß zu fassen. Man verfügt nicht über den sozialen und bildungsmäßigen Hintergrund der Söhne und Töchter von Architekt*innen oder Ärzt*innen. Vielen fehlt auch das entsprechende „Wording“, die richtige, angesagte Sprache. Es gibt kein familiäres Vermögen im Rücken, keine Beziehungsnetze – und oft fehlt auch die Leichtigkeit im Umgang mit anderen. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat die spezielle Erfahrung eines Arbeiterkinds an der Universität bereits 1965 so in Worte gefasst: „Die eine seiner Welten ist tot, und doch ist er ohnmächtig, die andere zu gewinnen.“ Laut Dahrendorf findet eine Entfremdung von dem Milieu der Eltern statt, ohne dass man aber in der akademischen Welt wirklich ankommt.

Strieses vier Stellvertreter*innen weisen ähnliche biografische Hintergründe auf wie er. Auch Stephanie Krallinger (29) kam über den dritten Bildungsweg an die Uni. Die gelernte Bürokauffrau kommt ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie und studiert heute Politikwissenschaft und Soziologie. In diese Fächer hat sich auch Mira Vaassen (21) eingeschrieben, ihr Weg an die Uni ging über die Realschule und die Fachoberschule (FOS). Als Vierter im Bunde dabei ist Niclas Vaccalluzzo, der ebenfalls Sozialwissenschaft studiert. Der Vater des 24-Jährigen ist Frührentner. Er erlebte dadurch Benachteiligungen an der Uni.

Sie ist nicht neu, die Erfahrung der Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Auch nicht neu ist, dass in Deutschland die soziale Herkunft bei den Bildungschancen eine große Rolle spielt. Der Anteil von Arbeiterkindern an den Universitäten war hierzulande im Vergleich zu anderen Ländern immer schon geringer, stieg in den 1970er-Jahren zwar etwas an, stagniert aber heute erneut. Statistiken zeigen: Während 79 von 100 Kindern aus Akademikerfamilien ein Hochschulstudium beginnen, sind es bei Kindern aus Nichtakademikerfamilien nur 27 von 100.

Relativ neu aber ist, dass Betroffene ihre Diskriminierungserfahrungen thematisieren. Die Münchner Uni ist erst die vierte Hochschule in Deutschland, an der ein Anti-Klassismus-Referat gegründet wurde. „Wir wollen eine Anlaufstelle für andere Studierende aus Arbeiterfamilien sein“, erklärt Striese. Es gehe darum, Erfahrungen auszutauschen und über Gefühle zu sprechen. Und um Solidarität.

In Corona-Zeiten ist das alles freilich nicht so einfach. Treffen waren in den vergangenen drei Semestern für die etwa 16 Aktiven nur online möglich. Konkrete Ziele und Forderungen haben sie indes genug: Das BAföG etwa solle wieder zu einem Vollstipendium werden. Und in Bayern müsse die Selbstverwaltung der Studierenden demokratischer werden. Mitspracherechte wie in anderen Bundesländern fordern die Studierenden. Aber sie schauen auch über den Tellerrand der Universität hinaus. „Wir wollen sichtbar machen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben“, sagt Striese. Und dass das Gerede über die „Leistungseliten“ in den Chefetagen nur ein Mythos sei.
(Rudolf Stumberger)

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