Leben in Bayern

Wahlbeobachter türkischer Parteien in Fürth: Ali Yurt von den Sozialdemokraten, Semra Aydin von der Erdo(g)an-Partei AKP und Emin Köse von den Grauen Wölfen. (Foto: Pelke)

31.03.2017

Evet oder hayir?

Für Bayerns Türken hat die Abstimmung über Erdoğans Verfassungsreferendum begonnen – die große Frage derzeit in Fürth:

„Ich sage nein, er ja und der da sagt vielleicht“ – seit Montag können in Bayern lebende Türken über das umstrittene türkische Verfassungsreferendum abstimmen. Neben München auch in Fürth. Rund 65 000 Wahlberechtigte aus Nordbayern, Thüringen und der Oberpfalz dürfen dort noch bis zum 9. April ihre Stimme abgeben. Und der BSZ-Besuch zeigt: Die Meinungen gehen weit auseinander. Das befürchtete Verkehrschaos rund um das Wahllokal in Fürth ist bislang ausgeblieben. „Die Nagelprobe werden wir an den beiden Wochenenden erleben. Ich hoffe, wir bekommen den Ansturm einigermaßen in den Griff“, sagt Mathias Kreitinger. Besonders die schlechte Parkplatzsituation rund um die „Grüne Halle“ im Fürther Südstadtpark bereitet dem Leiter des städtischen Ordnungsamtes seit dem Abstimmungsbeginn am Montag einige Kopfschmerzen. In Fürth steht neben München eines von bayernweit zwei Wahllokalen, in denen über Erdoğans Verfassungsreferendum abgestimmt werden kann.

Dort, wo einst US-Soldaten beim Basketball auf Korbjagd gingen, steht nun ein improvisiertes Wahllokal für das Verfassungsreferendum in der Türkei. Auf den Tischreihen stehen durchsichtige Urnen für die Stimmzettel bereit. Die aufgestellten Absperrbänder geben einen Vorgeschmack auf den Menschenandrang, den man in Fürth noch erwartet.

Erdoğan spielt mit der Sicherheit deutscher Türken“

Derweil schreiten die Parkanweiser in ihren neongelben Warnwesten vor der Halle zur Tat. „Der bekommt einen Strafzettel. Wir haben schon die Polizei verständigt“, sagt einer der drei jungen Männer und zeigt auf einen Wagen, der in der zweiten Reihe parkt. Beim Thema Referendum sind sich die drei, die freitags gemeinsam in die benachbarte Moschee zum Beten gehen, nicht einig. „Ich sage nein, er ja und der da sagt vielleicht“, sagt der junge Mann mit der Warnweste, während im Hintergrund ein Streifenwagen vorfährt.

Die einzige Zufahrt zum Wahllokal haben die Männer mit einer Barke gesperrt. Bei einer dunklen Limousine mit getönten Scheiben machen sie eine Ausnahme. „Das ist das Auto des Generalkonsuls“, sagen die jungen Parkanweiser und lassen den nagelneuen Wagen direkt vorfahren zum Eingang der „Grünen Halle“. Drinnen unterhält sich der türkische Generalkonsul, Yavuz Kül, mit den Wahlbeobachtern, die den korrekten Ablauf des Urnengangs garantieren sollen. Als Wahlbeobachter haben türkische Parteien einige Mitglieder aus der Region entsandt. „Ich bin von der bösen Partei“, sagt Semra Aydin und meint damit die Erdoğan-Partei AKP. „Ich bin von den Grauen Wölfen“, sagt Emin Köse und erzählt, dass auch er mit „Ja“ abstimmen wird. Ali Yurt von der sozialdemokratischen CHP drückt dagegen dem „Hayir“-, also dem Nein-Lager die Daumen. „Ich bin seit 43 Jahren hier. Meine drei Kinder sind hier geboren und haben hier studiert. Jetzt will Erdoğan den starken Mann spielen.

Damit gefährdet er die Sicherheit der in Deutschland lebenden Türken“, ärgert sich Yurt. Noch kräftiger dem „Nein-Lager“ die Daumen drücken dürfte Riza Kocadag, der Vertreter der Kurdenpartei HDP.
Erdoğan wolle mithilfe des Referendums in der Türkei langfristig eine Diktatur aufbauen. Viele Abgeordnete seiner Partei säßen in der Türkei bereits im Gefängnis, erklärt er. Kocadag hofft, dass auch viele Erdoğan-Anhänger einen absoluten Alleinherrscher in Ankara verhindern wollen und deshalb mit „Hayir“ abstimmen werden.

Die unterschiedlichen Politiklager gehen trotz aller Differenzen erstaunlich gelassen miteinander um. Selbst wenn eine AKP-Anhängerin allen, die es hören wollen, zuflüstert, dass der Vertreter der Kurdenpartei nur Lügen über Erdoğan verbreitet.

Arif Tasdelen, integrationspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag, ist in Nürnberg zuhause. Er glaubt nicht an eine tiefe Spaltung der türkischen Community aufgrund des umstrittenen Referendums. Die Vertreter der türkischen Parteien in der Region würden sich gut kennen und seien teilweise miteinander befreundet oder sogar verwandt. Der SPD-Politiker sieht durch das Referendum sogar eine Chance. „Solche Spannungen und Diskussionen führen auch dazu, dass wir Fehler aus der Vergangenheit korrigieren können“, ist sich Tasdelen sicher und verweist auf die Ausbildung, Entsendung und Bezahlung der Imame. „Bei diesem Thema haben wir lange genug zugeschaut, weil uns gefallen hat, dass die Türkei die Zeche für die Imame bezahlt hat“, kritisiert er. Damit müsse nun Schluss sein. „Der Freistaat muss die islamische Religion aktiv organisieren. Wir müssen Islamunterricht flächendeckend an den Schulen anbieten.“ Hinterhofmoscheen würden nur zu Radikalisierungen führen. „Wir brauchen einen Staatsvertrag“, sagt Tasdelen und betont, dass Imame aus der Türkei für die Integration der Menschen in Bayern nichts leisten könnten. „Die meisten Imame aus der Türkei kommen nur für vier Jahre nach Bayern. Die haben mit der deutschen Kultur in dieser kurzen Zeit nichts am Hut.“

Auf der anderen Seite müssten sich aber die in Bayern lebenden Türken auch endlich dazu entschließen, in Deutschland „richtig ankommen“ zu wollen. „Das ist doch nicht unser Problem, was Erdoğan in der Türkei macht. Unser Leben findet hier in Bayern statt. Die türkische Community in Bayern muss sich von der Türkei emanzipieren“, fordert Tasdelen.

Bis zum 9. April mutiert die ehemalige Sporthalle in Fürth nun täglich zwischen 9 und 21 Uhr zum politischen Pilgerort. Im Zentrum steht die Entscheidung, ob die Wahlberechtigten mit „Evet“ (Ja) oder „Hayir“ (Nein) abstimmen. Das Türkische Konsulat in Nürnberg hat die „Grüne Halle“ als Wahllokal gemietet, weil die eigenen Räumlichkeiten vor Ort nicht groß genug sind.

Allein in Nürnberg leben rund 19 000 Wahlberechtigte – davon rund 2200 mit dem Doppelpass. Genau 4706 Stimmberechtigte leben in der kleineren Nachbarstadt Fürth. Von den rund 65 000 Wahlberechtigten in Nordbayern, Thüringen und der Oberpfalz leben also etwas weniger als die Hälfte in den beiden mittelfränkischen Großstädten Nürnberg und Fürth. Im Fürther Rathaus hofft man darauf, dass die Ortskundigen möglichst auf die Anreise mit dem eigenen Auto verzichten.

Realisten gehen freilich davon aus, dass es anders kommen wird. Die Halle liegt in einem Wohngebiet. Anwohner haben mit ihren Protesten bereits dafür gesorgt, dass aus der Veranstaltungshalle künftig ein Bürogebäude wird. Besonders die türkischen Hochzeiten sollen den Anliegern in ihren schmucken Häusern nachts den Schlaf geraubt haben. Die Wohnungen mit Blick auf den „Südstadtpark“ mit der „Grünen Halle“ sind genauso beliebt wie begehrt.

Derweil verlässt eine junge Frau das Wahllokal in Fürth. „Ich habe mit ,Evet‘ und für die Verfassungsreform abgestimmt. Erst hatten wir Atatürk, jetzt haben wir Erdoğan. Dazwischen hatten wir niemanden. Erdoğan verdanken wir den wirtschaftlichen Aufstieg in der Türkei“, sagt die modern und ohne Kopftuch gekleidete Mutter gutgelaunt und selbstbewusst in akzentfreiem Deutsch. „Ich habe mit ,Nein’ gestimmt, damit die Türkei weiterhin zu Europa gehört“, sagt dagegen ein Familienvater und verlässt strahlend das Wahllokal. Er setze fest darauf, dass sich die Beziehungen beider Länder nach dem Referendum wieder normalisieren werden. (Nikolas Pelke) Foto (Pelke): Sorgt sich um den Ausgang des Referendums: der Kurde Riza Kocadag.

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