Leben in Bayern

Die Arzthelferin Elena Moldovan mit ihrem Sohn Florian. (Foto: Lill)

17.09.2021

Förderschule statt Ehrenrunde

Viele Kinder haben wie Florian (9) in der Corona-Pandemie massiv Lernstoff verpasst – doch in Bayern haben sie keinen Anspruch darauf, ein Schuljahr freiwillig zu wiederholen

In der Corona-Krise sind viele Kinder mit dem Lernstoff nicht hinterhergekommen. Der Freistaat versprach individuelle Lösungen. Doch anders als in manchen anderen Bundesländern, in denen Schüler*innen wegen der Corona-Pandemie freiwillig wiederholen dürfen, liegt diese Entscheidung in Bayern alleine im Ermessen der Schulen. Eine Münchner Arzthelferin, deren Sohn in der Pandemie viel Stoff verpasste, fühlt sich vom Freistaat im Stich gelassen, weil der Junge nicht freiwillig die zweite Klasse wiederholen darf. Sie fürchtet, dass ihr neunjähriger Bub nun auf die Förderschule muss.

Als Elena Moldovan während der Lockdowns in zwei Münchner Praxen ihre Frau stand, tat sie dies einerseits mit einem guten Gefühl: „Ich wurde in der Krise ja gebraucht“, sagt die 39-Jährige. Andererseits hatte sie auch ein schlechtes Gewissen. Denn ihr Sohn Florian, der eigentlich anders heißt, war 2019 in die erste Klasse gekommen. Dort besuchte er während des Lockdowns zwar phasenweise eine Notbetreuung und den Hort. „Aber weite Teile des Lernstoffs seiner Klasse bekam er dort schlicht nicht vermittelt. Er konnte ja nicht lesen“, sagt Moldovan.

Als Folge der Lernlücken des ersten Lockdowns sei ihr Sohn zunehmend nicht mehr mitgekommen, so Moldovan. „Und jeder Lockdown verschlimmerte seinen Lernrückstand.“ Und dennoch muss er nun ganz normal seit dieser Woche die dritte Klasse besuchen. „Da hat er doch keine Chance. Wie soll er etwa Mathe-Textaufgaben verstehen, wenn er noch immer kaum lesen kann?“, fragt die Mutter. Moldovan fühlt sich im Stich gelassen. Das Versprechen des Freistaats, dass stets eine individuelle und gute Lösung für von der Pandemie betroffene Kinder gefunden werde, sei „nur heiße Luft“. Denn aus Moldovans Sicht würde es ja eine einfache Lösung geben: Ihr Bub wiederholt freiwillig.

Doch die Lehrerkonferenz an Florians Schule hat einen entsprechenden Antrag abgelehnt. Florian wurde zwar wie viele im Juli geborene Kinder später eingeschult. Eine Klasse wiederholt hat er aber noch nicht. Ausschlaggebend für die Ablehnung sei gewesen, dass Florian „in der jetzigen Klassengemeinschaft ein stabiles Umfeld hat“, heißt es in der Mail der Schule an die Mutter. Auch seine körperliche Entwicklung und sein Alter würden gegen eine Wiederholung sprechen. Zudem verweist die Schule darauf, dass der Junge selbst gerne in der Klasse bleiben würde. „Es ist doch klar, dass ein Kind nicht gerne aus seiner Klasse weggeht“, entgegnet seine Mutter.

Lehrkräfte fordern ein freiwilliges individuelles Förderjahr für alle

Moldovan berichtet, die Schule habe ihr geraten, den laut IQ-Test durchschnittlich intelligenten Jungen auf eine Förderschule zu schicken. Doch Florians Mutter will das nicht. Denn Fakt ist, dass der Großteil der Schüler*innen sie ohne Schulabschluss verlassen. „Ich habe Angst, dass mein Junge nur wegen Corona um seine Zukunft gebracht wird.“ Deshalb lehnt Moldovan auch den Rat der Schule ab, Florian von den Noten befreien zu lassen. So solle der Bub zwar „vor unnötigen Frustrationen geschützt werden“. Doch oft führt genau dieser Schritt an die Förderschule – der Weg an eine weiterführende Schule jedenfalls ist Florian dann verbaut.

Moldovan ist sich sicher, dass ihr Sohn, bei dem zwischenzeitlich die Aufmerksamkeitsstörung ADHS diagnostiziert wurde, in der zweiten Klasse gut mitkommen würde. „Wir haben einen Schulbegleiter gefunden und er nimmt nun ein Medikament gegen ADHS“, sagt sie. Auch ist eine Therapie geplant. Falls ihr Kind nach einer angemessenen Probephase auch in der zweiten Klasse nicht mitkomme, sei sie bereit, ihn auf die Förderschule zu schicken, betont Moldovan. Es sei aber doch „ein Skandal, dass man einfach so tut, als gebe es Corona nicht“.

Auf die Pandemie geht die Schule in ihrer Mail an die Mutter mit keinem Wort ein. Auf BSZ-Anfrage verweist das Münchner Schulamt an das bayerische Kultusministerium. Dort äußert man sich aus Datenschutzgründen nicht zu dem Fall. Eine Sprecherin sagt: Die Entscheidung, ob ein Kind freiwillig wiederholen dürfe, treffe in Bayern „immer die Lehrerkonferenz unter Würdigung der schulischen Leistungen des Schülers und unter genauer Betrachtung des Einzelfalls“. Das Wohl des Kindes stehe dabei „immer an erster Stelle“. Eine freiwillige Wiederholung könne sinnvoll sein, wenn ein Kind über eine längere Zeit erkrankt war. „Die coronabedingte Ausnahmesituation alleine stellt keinen pauschalen Grund für eine freiwillige Wiederholung dar.“

Andere Bundesländer räumen Schüler*innen dagegen die Möglichkeit ein, zu Beginn dieses Schuljahrs aufgrund der Corona-Sondersituation freiwillig eine Klasse zu wiederholen. Sachsen-Anhalt zum Beispiel. Dort machten zu diesem Schuljahr rund 2600 Schüler*innen von dieser besonderen Möglichkeit Gebrauch. Die Zahl aller Wiederholer, inklusive Sitzenbleiber, stieg so innerhalb eines Jahres von 3500 auf 5700 an.

In Bayern erhebt das Kultusministerium keine Zahlen, wie viele Schüler einen Antrag auf freiwilliges Wiederholen gestellt haben. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) erklärt, dass viele aus der Lehrerschaft in den vergangenen Monaten von Eltern kontaktiert wurden, die wollten, dass ihre Kinder freiwillig wiederholen. „Vor allem die dritte und vierte Klasse sind Stolpersteine. Viele Eltern spüren, dass ihr Kind Teile des Lernstoffs noch nicht kann“, sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Nicht wenige seien etwa „stofflich nicht Anfang der dritten Klasse, sondern beim Stand Ende der ersten Klasse“. Sie fordert „ein freiwilliges individuelles Förderjahr für alle, das nicht auf die Schullaufbahn angerechnet wird“.

Fleischmann glaubt, dass der Freistaat auch wegen des Lehrkräftemangels kein generelles Recht zum freiwilligen Wiederholen einräume. So gebe es etwa an Grundschulen viel zu wenig Personal. Auch wolle man nicht eingestehen, „dass viele Schüler eben sehr wohl Probleme hatten, während der Lockdowns den Lernstoff zu verinnerlichen“.
(Tobias Lill)

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