Ein Villenviertel in München Pasing. Das alte Haus aus der Gründerzeit liegt inmitten eines größeren Gartens. Im Erdgeschoß sitzen in einem der Räume mehrere Frauen an einem gedeckten Tisch mit Kaffee und Brötchen, ein kleines Mädchen im blauen Kleid tollt herum. An der Wand hängen selbstgemalte Aquarelle, in einer Ecke liegen auf einem anderen Tisch die Zutaten, aus denen man Weihnachtskränze bastelt: getrocknete Zimtsterne, Tannenzweige etwa. Es ist Freitagvormittag und auf dem Wochenplan der „LebensRäume“, einer Institution der Diakonie, steht „Elternbrunch“.
„Wir sind hier so eine Art Familienersatz“, erläutert Projektleiter Johannes Britsch. „Mit unserem niedrigschwelligen Angebot helfen wir Familien und Kindern unmittelbar auf sämtlichen Präventionsebenen“, ist in einem Flyer der LebensRäume zu lesen. Niedrigschwellig meint, dass man hierher nach Pasing kommen kann, ohne groß bürokratische Hürden zu überwinden, Überweisungen von Ärzten sind zum Beispiel nicht notwendig. Und mit „Präventionsebenen“ ist gemeint, dass auf vielfache Weise künftigen Lebenskrisen vorgebeugt werden soll.
Denn hierher in die alte Villa kommen Familien, bei denen mindestens ein Elternteil von einer akuten Krise oder psychischer Erkrankung betroffen ist. Mit ihren Kindern, wenn die jünger als 18 Jahre sind. Das Angebot richtet sich an Menschen, die teilweise sozial isoliert sind, mit sich oder anderen nicht gut zurechtkommen, unter außergewöhnlichen Verhältnissen zu Hause leiden oder sich nach jemanden sehnen, der zuhören und helfen kann.
Viele der Betroffenen leiden an Einsamkeit
So wie bei Nora. Die 36-Jährige ist heute hier, um sich beim Familienbrunch mit anderen Frauen auszutauschen. Mit dabei ist das dreijährige Töchterchen, der elfjährige Sohn ist in einem Internat. Nora wohnt in der Nähe des Feldmochinger Sees im Norden der Stadt, nimmt aber gerne zweimal in der Woche den Weg hierher in den Westen auf sich, weil sie sich „hier wohlfühlt“. Nora ist alleinerziehend, von den Vätern ihrer Kinder hat sie sich getrennt. Und Nora leidet unter Depressionen, sie war in psychotherapeutischer Behandlung, auch stationär.
Sie ist froh, dass es das Angebot der LebensRäume gibt, und schätzt daran, dass man sich hier austauschen kann, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden. Jede Woche ist so die Villa in der Fritz-Reuter-Straße der Anlaufpunkt für zehn bis 20 Familien, insgesamt an die 60 Personen. Und „es kommen überdurchschnittlich viele Alleinerziehende“, sagt Johannes Britsch. Etwa die Mutter mit vier Kindern, die unter Angststörungen leidet. Oder das Pärchen mit Kind, das sich in einer psychiatrischen Anstalt kennengelernt hat. Oder der Vater, der lange in der Psychiatrie gelebt hat.
Die Menschen, die hierher kommen, leiden unter Angst- und Zwangsstörungen, an Freud- und Antriebslosigkeit, an Schizophrenie und wie die Diagnosen alle heißen. Und darunter leiden auch die Kinder. Und viele der Betroffenen leiden an Einsamkeit, haben ein Einzelgängertum entwickelt. Was oft auch mit prekären Verhältnissen einhergeht. Viele beziehen Sozialhilfe oder sind frühverrentet, die Wohnverhältnisse beengt.
Hier in den LebensRäumen treffen sie auf fünf sozialpädagogische Mitarbeiter und einen Wochenplan. Der beginnt am Dienstag mit dem „ErzählMal“-Modul von 12 bis 13.30 Uhr, hier kann man in Einzelgesprächen erzählen, wie es einem geht. Von 14 bis 17 Uhr steht dann „KreaFam“ auf dem Programm, was so viel wie „kreative Familie“ heißen soll, es geht ums Malen, um Yoga, um Musikhören.
Ab 17 Uhr wird es dann 2 Stunden lang kulinarisch, mit „Cookin“ steht gemeinsames Kochen und Essen im Plan. Und so geht es von Dienstag bis Samstag mit derlei Angeboten durch die Woche, darunter auch drei Gruppen für die Kinder.
„Das Haus ist etwas ganz spezielles“, meint Gabriela Zink, Professorin an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Hochschule München, „weil es ein gemeinsames Angebot für Eltern und Kinder ist“. Denn bei psychischen Störungen von Erwachsenen ist in München der Bezirk Oberbayern zuständig, für die Kinder das städtische Jugendamt. Zwar gibt es betreute Wohngruppen, aber dort fühlten sich die Betroffenen oft kontrolliert, der Umgang in den Lebensräumen sei freier.
Allein die entspannte Atmosphäre hilft
Die Professorin hat in den vergangenen zwei Jahren untersucht, wie das Projekt zu einer verbesserten Lebenssituation beitragen könne. „Allein der Ort hilft: Viele Familien leben in kleinen Wohnungen und profitieren in den LebensRäumen vom Platz und der Ruhe“, ist in ihrem Bericht zu lesen. In einem schönen Haus mit großem Garten mitten in Pasing gelegen, vermittelten die Räume eine angenehme und entspannte Atmosphäre.
Das Angebot der LebensRäume sei ohne bürokratische Hürden und langwierige Vermittlungswege für die Familien zugänglich. Dabei nehmen „die psychischen Belastungen und Überforderungen der Eltern und der ganzen Familie deutlich zu“, so die Erfahrungen der Fachkräfte. Gleichzeitig gebe es lange Wartezeiten in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungslandschaft in München.
Die mit den Eltern geführten qualitativen Interviews und die Analyse von Netzwerkkarten zeigen auch, dass die Familien, die das Sozialprojekt besuchen, nur eingeschränkt über soziale Kontakte und Vernetzungen verfügen. „Von ihren Herkunftsfamilien haben sie sich ebenfalls häufig zurückgezogen. Dies deckt sich mit anderen Studienergebnissen zur sozialen Situation psychisch erkrankter Menschen“, so Zink.
Der Ruf nach mehr Hilfsangeboten
Die Villa in Pasing böte demgegenüber vielfältige Gelegenheiten für Kontakte mit anderen betroffenen Vätern, Müttern, Kindern und Jugendlichen. „Die Wirkung der LebensRäume liegt darin, dass die ganze Familie angesprochen wird“, so Gabriele Zink. Ihr Fazit: „Wir bräuchten mehr an derartigen Angeboten.“ (Rudolf Stumberger)
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