Wer weiß besser, wie psychische Probleme überwunden werden können, als ehemalige Patienten. Ein einzigartiges Modellprojekt nutzt die Erfahrungen von Menschen mit psychischen Krankheiten und finanziert so genannte Genesungshelfer. Eine von ihnen ist Anja Seidel, die in Unterschleißheim anderen in persönlichen Krisen hilft. Und sie profitiert dabei auch selbst.
Der Eingang zum Treffpunkt „Jedermann“ in Unterschleißheim bei München liegt unscheinbar in einem Rückgebäude. Die Tagesstätte für psychische Gesundheit der Caritas ist in der ersten Etage des Wohnhauses untergebracht: Küche, Balkon drei Räume. Hierher kann man kommen, wenn einem zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, wenn man sich einsam fühlt, Kontakt zu Gleichgesinnten sucht oder Hilfe braucht. „Das sind Menschen, die zum Beispiel an Schizophrenie leiden oder an einer Borderline-Erkrankung, Menschen mit Ängsten und Neurosen“, erklärt Andreas Ammer, Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes. Manche sind auch nur „sonderbar“.
Im Gemeinschaftsraum hängt ein Wochenplan. „Wohlfühlgruppe“ steht am heutigen Freitag auf dem Programm. Und die ist Sache von Anja Seidel, die neben zwei Sozialpädagoginnen und einer Heilpädagogin, in der Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Problemen arbeitet. Seidel ist Genesungsbegleiterin. Seit zwei Jahren gehört die 34-Jährige bereits zum Team. Genesungsbegleiter sind Menschen, die selbst Erfahrungen mit persönlichen Krisen oder psychischen Krankheiten haben. Sie haben eine Ausbildung zum „Ex-In-Experten“ absolviert. Die Abkürzung „Ex-In“ steht für das englische „Experienced Involvement“ und bedeutet die Einbeziehung von Erfahrung.
Seit Jahresbeginn finanziert der Bezirk Oberbayern Seidels Stelle. Diese Förderung ist das Ergebnis eines seit 2012 laufenden Modellprojektes mit wissenschaftlicher Begleitung. Künftig soll jeder Sozialpsychiatrische Dienst einen Genesungsbegleiter einstellen können. Der Bezirk rechnet dabei mit Kosten von 170 000 Euro.
Bei Anja Seidel wurde nach einer langjährigen unerkannten Leidensgeschichte eine psychische Erkrankung, eine so genannte Bipolare Störung diagnostiziert. Dabei handelt es sich um Stimmungsschwankungen, die weit über das normale Maß hinaus gehen und unabhängig von den Lebensumständen sind. Diese Stimmungsschwankungen reichen von schwer depressiven bis schwer manischen Zuständen mit allen dazwischenliegenden Ausprägungen. Symptome der Manie können ein intensives Hochgefühl und eine deutlich gesteigerte Leistungsfähigkeit sein, hinzu kommen ein vermindertes Schlafbedürfnis bis hin zur Schlaflosigkeit, Distanzlosigkeit oder Redefluss im Umgang mit anderen Menschen. In der Depression wird dagegen ein gesteigertes Gefühl der Traurigkeit empfunden, man fühlt sich Antriebslosigkeit und verliert das Interesse an Dingen, die normalerweise Freude machen.
Die Diagnose bei Seidel: Bipolare Störung
„Mir ging es nicht gut“, sagt die junge Mutter zweier Kinder über diese Zeit, sie litt unter Größenwahn und Realitätsverlust einerseits, andererseits war sie suizidgefährdet. 16 Wochen verbrachte sie in einer Tagesklinik. Und dabei lernte sie in einer Gesprächsgruppe eine Genesungsbegleiterin in ihrem Alter kennen, die offensichtlich ein ganz normales Leben führen konnte: „Da wusste ich, das will ich auch!“, erzählt Seidel.
Genesungsbegleiter können im Umgang mit psychisch Kranken aus ihrer eigenen Erfahrung schöpfen und so anders auf die Menschen zugehen. „Wenn es im Team heißt, die oder die Person ruft nicht mehr an, sage ich, das ist doch ganz normal“, erzählt Seidel aus der täglichen Arbeit. Sie kann das Verhalten der Menschen mit psychischen Problem nachvollziehen. Und den Kolleginnen erklären. Oder wenn jemand alles schwarz sieht, dann sagt sie: „Das verstehe ich, mir ging es genauso.“ Und erzählt von ihrer eigenen Erfahrung: „Hey, das wird besser, auch wenn du das gerade nicht sehen kannst.“
„Das Jedermann ist ein Ort, wo man einfach da sein kann. Man muss nichts machen, kann aber etwas machen“, erklärt Seidel. Jeden Freitag ist sie in der Tagesstätte tätig und arbeitet auch in der Küche mit: „Das ist ein sehr interessanter Ort“, erzählt sie. Hier kann sehr vertraulich über Dinge gesprochen werden, aber die Klienten der Tagesstätte können auch ihre Stärken zeigen. Seidel: „Manche können tolle Gerichte kochen, Spinatlasagne zum Beispiel.“
Und freitags leitet sie auch die Wohlfühlgruppe. Dabei geht es darum, die Sinne zu wecken, so dass man sich wieder an das erinnert, was einem guttut. Fühlen, wie sich ein Stein anfasst. Oder mit Bedacht einen Tee trinken.
Um im Jedermann als Genesungsbegleiterin arbeiten zu können hat Seidel eine Ausbildung absolviert. Sie dauert ein Jahr und besteht aus zwölf dreitägigen Modulen. Voraussetzung ist die eigene Psychiatrie-Erfahrung. Die ehemaligen Patienten beschäftigen sich dabei mit Themen wie Gesundheit und Wohlbefinden, Beratung und Begleitung, dem Übertragen von Verantwortung, mit Genesung und dem Wiedererstarken von Kräften. Schwerpunkt des ersten Bildungsteils ist dabei die Persönlichkeitsentwicklung. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben oftmals Hemmungen, ihre Erkrankung vollständig zu akzeptieren und in der Gesellschaft offen damit umzugehen. Jeder, der Erfahrungen mit verschiedenen Einrichtungen der Sozialpsychiatrie gemacht hat, kann diese nutzbringend für andere Menschen in ähnlichen Situationen einbringen, so das Konzept. Die Reflexion der eigenen Erfahrungen bildet dafür das Fundament. Im zweiten Teil der Bildungsmaßnahme liegt der Fokus auf den Methoden, mit denen andere Menschen in ihrer Genesung begleitet werden können.
Neue Perspektiven auch für Therapeuten
Hervorgegangen ist „Ex-In“-Konzept aus einem Pilotprojekt der EU, das von 2005 bis 2007 in sechs Ländern durchgeführt wurde. Anschließend fanden die ersten Ausbildungskurs auch in Deutschland statt.
Die Förderung von „Ex-In“-Ausgebildeten durch den Bezirk Oberbayern allerdings in ist Deutschland einmalig. „Das Wissen der Genesungsbegleiter ist für die psychiatrische Arbeit von unschätzbarem Wert“, begründete Bezirkstagspräsident Josef Mederer den Beschluss. „Ich sehe die Experten in eigener Sache als große Bereicherung für die Teams der Sozialpsychiatrischen Dienste“, betonte er. „Mit ihrem persönlichen Erfahrungsschatz können sie nicht nur den erkrankten Menschen zur Seite stehen, sondern auch Sozialpädagogen und Therapeuten neue Perspektiven auf die Lage der Betroffenen eröffnen.“
Für Anja Seidel jedenfalls ist ihre Arbeit im Jedermann aber auch persönlich sehr wichtig. Denn sie hilft damit nicht nur den anderen, sie hilft auch sich selbst. Sie sagt: „Ich gehe jeden Freitag nach der Arbeit gestärkt aus der Tagesstätte nach Hause, auch ich gewinne sehr viel.“ (Rudolf Stumberger)
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