Leben in Bayern

Kleines Foto: Hildegard Grundmann (95). Wo einst ihr Heimatdorf war, ist nichts als Wasser. (Fotos: Karl Stankiewitz, Thomas Stankiewicz)

31.05.2019

Ihr Vater trotzte den Fluten bis zuletzt

Vor über 60 Jahren wurde das Dörfchen Fall im Sylvensteinsee versenkt – Hildegard Grundmann (95), eine der letzten Bewohnerinnen, erinnert sich

Selten und eher schemenhaft kann man von der großen Brücke aus noch Mauerreste des ehemaligen Dorfs Fall herausragen sehen. Zum Beispiel während der Trockenperiode im vorigen Sommer. Für Urlauber und Ausflügler eine beliebte Attraktion. Bei den heutigen Bewohnern des oberen Isarwinkels indes werden in solchen Momenten eher wehmütige bis traurige Erinnerungen wach. Erst recht bei den wenigen noch lebenden Menschen, die man vor 60 Jahren „abgesiedelt“ hatte.

Hildegard Grundmann hat den Untergang des Grenzdörfchens Alt-Fall hautnah erlebt. In Kiefersfelden blättert die 95-Jährige in einer Sammlung von vergilbten Fotos des letzten Forstamtsvorstehers Anton Böhm. Und sie erzählt die Geschichte der ersten Bayern, die nach 1945 gewissermaßen zu Heimatvertriebenen wurden. „Ja, wir waren geschockt und verängstigt“, klagt die Dame, deren Mann im vorigen Jahr gestorben ist. Ihre Eltern hatten sich damals geweigert, dem Großprojekt zu weichen.

Die Tante von Hildegard Grundmann betrieb den kleinen Kramerladen, dort traf man sich und ratschte. Die meisten der 120 Dörfler waren Holzarbeiter, Jäger und Forstangestellte. Sie sollten in die modernen Mehrfamilienhäuser umziehen, die ihnen die staatliche Forstverwaltung auf einer Kuppe, 40 Meter höher, hingestellt hatte. Beton statt Holz, Blechdächer statt Schindeln. Ein synthetisches Dorf.

Erst recht nicht raus wollte Hildegard Grundmanns Vater Rudolf Todeschini. 30 Jahre hatte der Rentner im Forstdienst gearbeitet. Einige nannten ihn „Südtiroler Dickschädel“. Doch ihn schreckte nicht nur das moderne Ausweichquartier mit kleineren Räumen und höheren Mieten, sondern auch die Befürchtung, später noch einmal umziehen zu müssen. Denn das 60 Millionen Mark teure Sylvenstein-Projekt sollte eigentlich nur die latente, 1954 höchst akut gewordene Hochwassergefahr für München und die unteren Isarstädte bannen und nebenbei ein Kleinkraftwerk betreiben. Doch der Ausbau zu einem gigantischen Energiespeicher mit einem Aufstau von hundert Metern stand im Raum. Tatsächlich wurde der Damm bis 2006 nach abermals fünfjähriger Arbeit von 44 auf fast 70 Meter aufgestockt; er ist heute die höchste Talsperre Deutschlands.

Am Ende musste der Vater mit einem Schlauchboot gerettet werden

Hildegard Grundmann, damals hieß sie noch Todeschini, hing an ihrer kleinen „Hoamat“ – so wie ihre Eltern und die neun Geschwister, von denen die vier jüngsten noch leben. Sie gingen dort in die Schule, die nur ein Klassenzimmer und eine Lehrerin hatte. Sie standen Parade, als Reichspräsident Paul von Hindenburg zur Jagd kam. Manchmal durften sie selbst auf der Bockerlbahn mitfahren, die Holz aus dem Tiroler Bärental beförderte.

Und dann erlebten sie, schon erwachsen, wie bis zu 500 Arbeiter das Hochtal von Grund auf umkrempelten. Am 24. September 1957 begann die Umsiedelung. Am 22. Mai 1958 wurde das erste der 2o Häuser gesprengt. Bis auf die Grundmauern sollte das alte Alpendorf abgerissen werden. Denn man wollte nicht, dass es als versunkenes Dorf zur Legende wird. Nach und nach fielen all die historischen Häuser in den drei Ortsteilen den Spitzhacken und Baggern zum Opfer: die Kapelle, die schon um 1600 auf einem Aquarell aufgetaucht war, das Forstamt, die Zwergschule. Im sogenannten Beamtenwohnhaus aber trotzte Todeschini mit seiner Familie dem Abbruch. „Er wollte halt nur eine gleichwertige Wohnung mit Platz für die vielen Angehörigen unserer Familie“, sagt seine Tochter Hildegard Grundmann heute. „Man hat uns Quartiere ohne Licht und Wasser angeboten.“

Am 17. August 1958 sangen die Dorfbewohner in der Marienkapelle das letzte Te Deum. Inzwischen hatte der „Einlauf“ begonnen, die Überflutung des Talkessels aus den Wildwassern der Isar, des Walchen- und des Dürrachbachs. Plötzlich, im Spätsommer 1959, setzte Starkregen ein, der den Pegel des Stausees am Sylvenstein schneller als gedacht ansteigen ließ. Im Beamtenwohnhaus drang das Wasser bald durch die Tür, sodass der Todeschini-Clan ins Obergeschoss flüchten musste. Pioniere aus Mittenwald holten schließlich alle mit dem Schlauchboot heraus – und jagten nun auch das letzte Haus mit 300 Kilo Sprengstoff in die Luft. Und Fall ging unter.

Im Verlauf der Jahrzehnte hat sich Neu-Fall in die zauberhafte Landschaft gut eingefügt. Alt-Fall aber bleibt unvergessen. Im Hotel Jäger von Fall – Ludwig Ganghofer hatte dem Dorf mit seinem Jäger von Fall ein Denkmal gesetzt – eröffnet am 1. Juni eine Ausstellung über „Alt-Fall und seine Einwohner“. Fotograf Claus Eder, stolzer Besitzer eines historistischen Archivs, ruft mit seinen Bildern noch einmal das Geschehen am Sylvenstein in Erinnerung. Hildegard Grundmann, heute auf Pflege angewiesen, kann die Ausstellung leider nicht besuchen.
(Karl Stankiewitz)

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