Leben in Bayern

Werner Lustig ist glücklich: Dank des DRK-Suchdienstes hat er mehr über das Schicksal seines im Zweiten Weltkrieg verschollenen Großvaters Martin Halbinger erfahren. Millionen von Daten und Namen schlummern im Münchner Archiv des Suchdienstes. (Fotos: Stark)

09.05.2025

Jede Karteikarte ist ein Schicksal

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren spürt der Suchdienst des Roten Kreuzes Vermissten nach – die Frage ist nur: Wie lange ist das noch möglich?

Werner Lustig bewegt sich vorsichtig durch die schmalen Gänge, die gesäumt von Regalen sind. 500 Regalmeter, um genau zu sein. Voller vergilbter Bände, Register und Karteikarten. Jede Karte ein Schicksal. „Irre viele Daten“, sagt der 67-jährige pensionierte Polizist aus München ehrfürchtig. Lustig ist zum ersten Mal hier, im Archiv des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in München, der sich primär mit der Schicksalsklärung von Vermissten im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt.

Schriftlich und telefonisch hatte Lustig schon häufiger Kontakt. Denn er wollte mehr über den Verbleib seines Großvaters mütterlicherseits wissen. Der Mann aus Unterhaching war als Teil der 17. Panzerdivision in den Zweiten Weltkrieg gezogen und nach Kriegsende nicht mehr zurückgekehrt. Er galt lange als vermisst. Sein ungeklärtes Schicksal war eine große Belastung für die Familie, besonders für seine Frau und seine Tochter, Lustigs Mutter. Die Frau des Soldaten starb 1977, ohne etwas über den Verbleib ihres Mannes erfahren zu haben.

Erst 2002 kam die „große Überraschung“, wie es Lustig nennt. Da erhielt die Familie vom DRK-Suchdienst die Nachricht, dass der Soldat im März 1945 in einem russischen Gefangenenlager in einem kleinen polnischen Ort gestorben sei. Damit war die Ungewissheit vorbei. Eine immense Erleichterung – vor allem für Werner Lustigs Mutter.

Letztes Lebenszeichen am 7. Januar 1945

Erst nach deren Tod vor drei Jahren beschäftigte sich Werner Lustig wieder mit den Umständen des Todes seines Großvaters. In den Unterlagen seiner Mutter hatte er Feldpostbriefe vom Opa von der Front gefunden. Der letzte Brief datierte vom 7. Januar 1945 – das letzte Lebenszeichen. Lustig wollte mehr erfahren. Die altdeutsche Schrift konnte er nicht entziffern. Deswegen schrieb er an den DRK-Suchdienst – in der Hoffnung, dass man dort in den Briefen Hinweise entdecken kann.

Vor einem halben Jahr meldete sich das DRK tatsächlich mit weiteren Informationen: Der Großvater war Mitte Februar 1945 gefangen genommen und dann in ein Sanatorium gebracht worden – wo er schließlich im März starb. „Weitere Details will ich auch gar nicht wissen“, sagt Lustig. Er könnte auch noch nachforschen, wo der Opa womöglich begraben liege. Es gebe da einige Hinweise. „Aber die Informationen sind alle zu diffus“, erklärt der Pensionär. Er habe seinen Frieden gefunden und wolle daher jetzt mit dem Thema abschließen.

Abschließen – oder an etwas anknüpfen – wollen auch viele andere Menschen, die sich an den DRK-Suchdienst wenden. Selbst 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreichen das Rote Kreuz Tausende Anfragen von Menschen, die wissen wollen, was aus ihren Angehörigen geworden ist, die in den Wirren des Krieges verschollen sind. Laut Florian Neubauer, dem Leiter des Suchdienstes in München, waren es allein im vergangenen Jahr 7000 Suchanfragen. Es sind Ehepartner, Geschwister, Kinder und auch zunehmend Enkelkinder, die sich an den Suchdienst wenden. Die Aussichten, die erlösende Auskunft zu erhalten, sind gar nicht mal so schlecht. Die Erfolgsquote liegt laut DRK bei rund 43 Prozent. 1,2 Millionen Suchanfragen konnten tatsächlich schon gelöst werden.

Eine wesentliche Informationsquelle ist die inzwischen auch digitalisierte Zentrale Namensdatei, die 50 Millionen Karteikarten umfasst und Auskunft über den Verbleib von 20 Millionen Menschen gibt. Seit 1992 kann das Rote Kreuz auch auf die Daten ehemals sowjetischer Archive zurückgreifen, darunter viele Daten aus früheren sowjetischen Gefangenenlagern. Nach und nach sollen die Bestände alle digitalisiert werden. 34 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt das DRK am Standort München in der Chiemgaustraße in Giesing.

„Es ist eine humanitäre Kernaufgabe der gesamten Rotkreuzbewegung“, sagt DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt. Der Suchdienst sei nicht nur für die Angehörigen von großem Wert, sondern für die gesamte Gesellschaft. „Es ist ein Stück unserer Erinnerungskultur.“ Es sei wichtig, sich immer wieder vor Augen zu halten, „welche Schrecken mit bewaffneten Konflikten auch für Familienangehörige verbunden sind“.

Die frühere Bundesministerin und ehemalige Bundestagsabgeordnete der CSU erinnert sich an die Anfrage einer Frau vor kurzer Zeit: Die Frau war in den Kriegswirren als Kleinkind von ihren Eltern getrennt worden und wuchs woanders auf – ohne ihren ursprünglichen Namen oder die Namen ihrer leiblichen Eltern zu kennen. Sie wusste auch nichts über das Schicksal ihrer Eltern. Der DRK-Suchdienst konnte schließlich einen Kontakt herstellen. Die Eltern waren zwar inzwischen tot, es gab aber weitere leibliche Verwandte. „Was das für so einen Menschen bedeutet, kann sicher jeder nachvollziehen“, sagt Hasselfeldt.

Seit 1953 finanziert das Bundesinnenministerium die Arbeit des Suchdienstes. Die Schicksalsklärung im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg ist nur ein Teil davon. Die Hilfe richtet sich an alle Menschen, die durch bewaffnete Konflikte, Katastrophen, Flucht, Vertreibung oder Migration von ihren Angehörigen getrennt wurden. Zum Beispiel aktuell in der Ukraine. Dafür gibt es jährlich 12 Millionen Euro.

Die Leitstelle befindet sich in Berlin, neben den beiden Standorten in München und Hamburg betreuen auch die DRK-Landesverbände sowie rund 90 Suchdienst-Beratungsstellen der Kreisverbände Ratsuchende. „Bei jedem erfolgreichen Fall fließen bei uns Tränen der Erleichterung“, sagt Frauke Weber, die Leiterin der Leitstelle in Berlin. Denn gerade bei Konflikten der jüngeren Zeit ist die Chance hoch, die Angehörigen tatsächlich noch lebend zu finden.

Finanzierung nur bis 2028 gesichert

Um zu helfen, brauche man aber zumindest einige Grundinformationen, sagt Weber. Sie appelliert daher an alle: „Eltern sollten ihren Kindern früh beibringen, sich ihren vollständigen Namen, die Namen der Eltern und den Herkunftsort einzuprägen.“ Sonst könne es auch 80 Jahre dauern, bis ein Ergebnis vorliegt. 

3 Millionen Euro des Suchdienstbudgets sind für den Zweiten Weltkrieg reserviert. Allerdings ist die Zuwendung nur bis 2028 gesichert. Gerda Hasselfeldt ist zuversichtlich, dass die Frist – wie schon zweimal zuvor – verlängert wird. Wenn die Bundesregierung ihre Arbeit richtig aufgenommen hat, werde sie das Gespräch suchen, versichert die DRK-Präsidentin. Schließlich gebe es ja nach wie vor Anfragen. Und im Vergleich zu sonstigen Ausgaben des Bundes sei der benötigte Betrag ja ein bescheidener.  (Thorsten Stark)
 

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