Herzklopfen, verschwitzte Hände, Lampenfieber: Viele Menschen haben Prüfungsangst. Das ist per se nichts Schlechtes, weil dadurch Lernmotivation und Leistungsfähigkeit steigen. Doch rund ein Drittel der Studierenden in Bayern leidet unter übermäßiger Prüfungsangst. Die gute Nachricht: In 97 Prozent der Fälle kann geholfen werden.
Das flaue Gefühl im Magen vor Prüfungen kennt jeder. Doch Prüfungsangst kann auch krankhaft werden. Selbst Albert Einstein soll davon betroffen gewesen sein. Prüfungen türmen sich dann unüberwindbar wie Berge auf, obwohl das Gefühl nichts mit der realen Leistungsfähigkeit zu tun hat. Es folgen überfallartige Panikattacken, Herzrasen, Schlafstörungen und Schweißausbrüche. Manche versuchen aus dieser Situation zu fliehen, indem sie sich von ihrer Umwelt abkapseln. „Ich habe mich monatelang zu Hause vergraben und mich bei meinen Freunden nicht mehr gerührt“, erzählt der ehemalige Münchner Politikstudent Andreas Huber (Name geändert). Selbst seine Eltern habe er auf Distanz gehalten, um sich ihrer sozialen Kontrolle zu entziehen. Lange dachte er, er bekomme alles schon irgendwie hin. „Als ich mir eingestanden habe, dass ich Hilfe brauche, war es schon fast zu spät“, erinnert sich Andreas. So ergeht es vielen.
Erst als die Exmatrikulation drohte, suchte Andreas im Internet nach Beratungsmöglichkeiten. Dabei stieß er auf die Psychotherapeutische und Psychosoziale Beratungsstelle des Münchener Studentenwerks. Dort halfen ihm die Mitarbeiter einerseits mit Lernmaterialien bei der konkreten Vorbereitung auf seine Prüfungen, zum anderen mit Entspannungsmethoden wie Atemübungen, länger konzentriert zu bleiben. Selbst autogenes Training, progressive Muskelrelaxation, Qigong oder Yoga werden angeboten. „Außerdem wurde mir erklärt, wie ich meinen Alltag so gestalte, dass ich möglichst lange fokussiert bei der Arbeit bleibe“, berichtet Andreas. Parallel dazu vereinbarte er einen Termin beim Psychotherapeuten.
Als sich Andreas Hilfe holte, war es schon fast zu spät
„Prüfungsangst ist der hauptsächliche Faktor beim Abbruch des Studiums“, bestätigt Psychoanalytikerin Anima von Nostitz von der Beratungsstelle des Münchner Studentenwerks. Sie käme noch vor der Prokrastination – dem Aufschieben von Arbeit – und Krankheit. Statt vom Erfolg gingen betroffene Studierende immer von Katastrophenszenarien aus. Dabei seien Selbstzweifel und die Angst zu versagen im persönlichen Coaching und durch eine positive Einstellung gut behandelbar. Doch obwohl die Erfolgsquote nach einer Verhaltenstherapie bei 97 Prozent liegt, glauben viele nicht, dass ihnen bei ihrer Arbeitsstörung geholfen werden kann. „Für viele ist es peinlich, sich Hilfe für ihre seelischen Probleme zu holen“, weiß von Nostitz. Dabei sind Supervision und Coaching bei Arbeitnehmern heute üblich. Und ganz wichtig: Betroffene sind nicht allein.
Rund 1300 Studierende aller Universitäten im Umkreis von München nehmen jedes Jahr die Dienstleistungen der Beratungsstelle in Anspruch – ein Viertel davon wegen Prüfungsangst. In kostenlosen und vertraulichen Beratungsgesprächen klären die Mitarbeiter, um welche Form von Prüfungsangst es sich handelt und leisten „Erste Hilfe“. Falls nötig, werden die Studierenden danach in individuelle therapeutische Maßnahmen weitervermittelt. Die Kosten dafür übernimmt die Krankenkasse. Damit es erst gar nicht so weit kommt, rät von Nostitz Lehrenden, Fragen präzise zu formulieren und zu Beginn der Prüfungen immer eine „Wohlfühlfrage“ zu stellen: „Wenn die Einstiegsfrage nicht milde ausfällt, blockiert das Prüfungsängstliche.“
Bis zu einem gewissen Maß ist Lampenfieber gut, denn das Adrenalin im Blut steigert die Leistungsfähigkeit. „Angst kann auch stark dazu motivieren, in Anstrengungen zu investieren, um Misserfolg zu vermeiden“, hat Professor Reinhard Pekrun von der Fakultät für Psychologie und Pädagogik an der Uni München herausgefunden. „Extrinsische Motivation“ nennt der Psychologe das. Bei der intrinsischen Motivation jedoch reduziert die Angst die vorhandenen Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses und damit die Aufmerksamkeit. Langzeitstudien zur Prüfungsangst zeigen eine „Negativspirale“: „Prüfungsangst trägt zu Misserfolgen bei, Misserfolge untergraben das leistungsbezogene Selbstvertrauen und führen damit zu verstärkter Prüfungsangst“, konkretisiert Pekrun. Ein Teufelskreis.
Laut Untersuchungen verschiedener Krankenkassen leiden 50 Prozent der Deutschen, aber 53 Prozent der Studierenden unter Stress. Bei jedem vierten Studierenden ist dieser so groß, dass er nicht mehr mit gewohnten Ausgleichsstrategien zu bewältigen ist. Bei Studierenden, die älter als 27 sind, liegt die Rate sogar bei 40 Prozent.
Frauen sind viel häufiger betroffen als Männer
Viele Experten fordern dringend, im Studium mehr Techniken zum Zeitmanagement zu lehren. Denn ein weiterer Grund für Stress und Angst ist falsches Lernverhalten: Drei Tage zehn Stunden am Stück zu lernen ist einfach nicht so effektiv wie über drei Wochen jeden Tag eine Stunde. Matthias Angstwurm von der Medizinischen Fakultät der Uni München glaubt sogar, dass viele Studierende ihre Leistungen falsch einschätzen. Er hat kürzlich eine systematische Untersuchung zum Thema kognitive Prüfungsangst durchgeführt. „Ein Drittel der Medizinstudierenden hat schon eine Prüfung geschrieben, auf die sie nicht vorbereitet waren“, erzählt er. Da die Ergebnisse dann schlechter ausfallen als zuvor vermutet, sei Prüfungsangst eine logische Konsequenz. Sie müssten aus diesem Grund häufiger Feedback über ihren Leistungsstand bekommen – zum Beispiel mithilfe von Probeklausuren.
Laut Angstwurm spielt das Studienfach dabei keine Rolle: Die Unterschiede zwischen angehenden Medizinern, Betriebswirten, Natur- und Geisteswissenschaftlern seien nur „marginal“. Das Ausmaß der Angststörung hänge viel mehr vom Geschlecht ab. „Frauen haben eine wesentlich höhere Prüfungsangst als Männer“, erläutert Angstwurm. Er fordert, das Thema deutlich intensiver als bisher zu erforschen. Wenn Menschen aus sozialen, finanziellen oder kognitiven Gründen nicht optimal studieren können, werde das Potenzial junger Studentinnen und Studenten zur Entwicklung einer professionellen Karriere sowie des persönlichen und beruflichen Erfolges „erheblich eingeschränkt“. „Dies hat auch gesellschaftliche Auswirkungen für die Zukunft.“
Auch an der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) in München helfen Seelsorger den Studierenden bei Prüfungsangst – unabhängig von ihrer Konfession. Hochschulpfarrerin Martina Rogler versucht dann herauszufinden, was die Ursachen für die Angst sind. Liegt es am Stoff, am Fach oder gar am Studium? Je genauer man die Art der Angst benennen könne, desto kleiner werde sie. Prüfungen lassen sich in der Regel wiederholen oder im nächsten Semester durch andere Prüfungsleistungen ausgleichen. „Vor allem aber betone ich, dass der Mensch viel mehr wert ist als seine Erfolge und dass der Wert eines Menschen nie von Prüfungen abhängt“, unterstreicht Rogler. Die innere Freiheit schaffe dann viel Raum, Prüfungen frech-gelassen anzugehen. Und wenn es wirklich um die letzte Chance geht, arbeitet sie mit einer Lerntrainerin zusammen, die minutiöse Lernpläne aufstellt.
ESG-Studentenpfarrer Friedemann Steck betreut in erster Linie internationale Studentinnen und Studenten. „Muslimische Studierende sprechen direkter als andere die Religion als Ruhepol und Motivationsquelle an“, erzählt er. Doch gerade wenn der drohende Studienabbruch auch das erzwungene Coming Home bedeuten würde, suchen auch sie das Angebot einer Beihilfe. „Die Klausuren und erst recht die mündlichen Prüfungen lassen sie jedes Mal ihre Sprachbarrieren spüren“, verdeutlicht Steck. Doch aus einem ökumenischen Notfonds der Landeskirche und der Diakonie kann er für Studierende aus Nicht-EU-Ländern eine Beihilfe beantragen – vorausgesetzt, sie befinden sich unmittelbar vor einer Prüfungssituation und in einer finanziellen Notlage.
An der Katholischen Hochschulgemeinde gibt es seit 2015 ebenfalls eine weltanschaulich neutrale psychologische Beratungsstelle. Dort steigen die Anfragen regelmäßig gegen Ende eines jeden Semesters.
Andreas hat sein Studium inzwischen erfolgreich abgeschlossen. „Ich habe zeitweise selber nicht mehr daran geglaubt“, sagt er und grinst. Hätte er die Hilfe nicht in Anspruch genommen, wäre ihm das nicht gelungen, ist Andreas überzeugt. Nachdem er seine ersten Bewerbungen verschickt hatte, dauerte es nicht lange, bis eine Zusage kam. Jetzt arbeitet er bei der Stadt München. Die Tipps von der Beratungsstelle helfen ihm auch heute noch, sich im Job besser konzentrieren und seinen Tag strukturieren zu können. Natürlich gerate er trotzdem hin und wieder auch mal in Stress. „Von Angst aber“, sagt er, „fehlt jede Spur.“ (David Lohmann)
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