Bettina Hohlweg-Majert schleift gerade einen Kieferknochen, als ihr Telefon klingelt. Sie bittet die Schwester ranzugehen. Am anderen Ende sucht eine Kollegin aus einem Krankenhaus in Rosenheim Rat. „Wir haben ein 15-jähriges Mädchen“, sagt die Kollegin. Schädelhirntrauma nach Verkehrsunfall. „Soll man jetzt operieren“, fragt sie, „oder hat das Zeit?“ Der Rat muss warten. Im OP-Saal 2 in der Paracelsus- Klinik in Englschalking bei München liegt ein Patient auf dem Tisch.
Das Gesicht: Kosmos aus Nerven, Muskeln, Drüsen
Bettina Hohlweg-Majert ist „MKGlerin“. So nennen sich die Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen. Mit 39 hat sie einen Professoren- und zwei Doktortitel. Sie ist eine Ausnahme in einer Männerwelt. Von den 62 MKGlern in München sind nur acht Frauen. Professorinnen ihres Gebiets gibt es außer Hohlweg-Majert keine.
Der Patient, über den sich Hohlweg Majert nun beugt, ist schon lange krank. Die Medikamente seiner Chemotherapie haben ein Loch in seinen Kiefer gefressen. Hohlweg- Majert soll den schlechten Knochen abtragen, den Mann von seinen Schmerzen befreien. Mit einer Säge trägt sie den abgestorbenen Knochen ab, mit einem Elektrokaute – einer Art Lötkolben – verödet sie Blutungspunkte. Es riecht nach verbranntem Fleisch. Ein kurzer Eingriff, nach 25 Minuten ist die Ärztin fertig. Mit schnellen Handbewegungen vernäht sie die Wunden im Mund. Die Anästhesisten schieben den Mann in den Aufwachraum. In drei Tagen wird der Mann das Krankenhaus verlassen, gesund wird er nicht sein. Hohlweg-Majert hat seinen Kiefer repariert, heilen muss ihn sein Onkologe.
Die Chirurgin hat kurze, blonde Haare und einen festen Händedruck. In ihrer Praxis malt sie Operationsverläufe wie Schlachtpläne auf ein Blatt Papier. An einem Schädel simuliert sie, wie sie Kiefer verschieben will. Die Kollegen bewundern ihre Schnelligkeit im OP. „Die macht Sachen, die sonst drei Stunden dauern, in 40 Minuten“, sagt eine Ärztin.
Die Gesichts-Spezialisten sind Knochenbrecher und Feinmechaniker. Sie entfernen Tumore und geschwollene Lymphknoten. Sie entnehmen Hautpartien von Unterarmen und pflanzen sie auf verbrannte Hälse oder Wangen. Sie ziehen Weisheitszähne, kappen Wurzelspitzen und schieben den Unterkiefer nach vorne, damit der Patient wieder beißen kann. Wenn der papierdünne Knochen, der den Augapfel trägt, in einer Prügelei bricht, platzieren die Chirurgen an seiner Stelle ein winziges Metallplättchen, damit das Auge nicht weiter absackt. Es darf nichts schief gehen. Sonst hängt ein Lid, wird eine Lippe taub, ein Nerv gelähmt.
Ein Gesicht mag 20 Zentimeter lang und 15 breit sein. Es mag klein wirken, vor allem im Vergleich zum Rest des Körpers. Doch steckt hinter ihm ein Kosmos aus Nerven und Muskelsträngen, aus Knochen und Drüsen. Ihr feines Zusammenspiel lässt uns lachen oder weinen, zürnen oder staunen. Es lässt uns schmecken, riechen und reden. Es entscheidet darüber, ob wir schön erscheinen, symmetrisch und attraktiv. Das Gesicht erzählt mehr von einem Menschen mehr als jeder andere Teil seines Körpers. Jedes Gesicht ist einzigartiges, empfindsames und fragiles Kunstwerkder Natur.
Etwa zehn Prozent der Spezialisten in Deutschland sind Frauen. In keinem anderen Fachgebiet der Medizin sind Frauen so schwach vertreten. Woran das liegt? An der Familienplanung, meint Hohlweg-Majert. „Man ist erst mit 30 fertig mit der Ausbildung und kann dann seine Karriere starten. Für Kinder ist da keine Zeit.“ Sie hat keine Kinder, ihre Assistenzärztin auch nicht.
Hohlweg-Majert setzt sich in die Schwesternküche, es riecht nach Suppe und Desinfektionsmittel. Auf ihrem Computer sieht sie sich Röntgenbilder und Computertomographien an. Sie gehören der 15-Jährigen, die bei Rosenheim als Beifahrerin im Auto gegen einen Baum geprallt war. Die Unfallchirurgen aus dem Kreiskrankenhaus sind unsicher, wie sie vorgehen sollen. „OP ja, aber nicht jetzt“, sagt Hohlweg-Majert. Das Mädchen muss sich erst einmal von seiner Gehirnerschütterung erholen.
Drei Tage später liegt es in Englschalking, Hohlweg-Majert hat dort ihre Belegbetten. Das Gesicht des Mädchens ist geschwollen, ihr blaues Auge wirkt wie eingedrückt. Der Fahrer war ein Freund von ihr, hatte gerade erst die Führerscheinprüfung bestanden. In einer Kurve kam der vollbesetzteWagen ins Schleudern.
Die große Kunst ist, dass man am Ende nichts sieht
Zwei Mädchen brachen sich den Rücken, ein weiterer Junge erlitt einen Lungenriss. Der Fahrer blieb unverletzt. Die 15-Jährige ist mit dem Gesicht aufgeprallt. Wie das genau passiert ist, weiß sie nicht mehr. Ihr Augenboden ist gebrochen, der papierdünne Knochen, der den Augapfel trägt. Auch ihr Jochbein, der Wangenknochen, hat mehrere Frakturen.
Um 11.45 Uhr greift Hohlweg- Majert zum Skalpell. Es ist ihre erste OP in dieser Woche, etwa OP Nummer 7000 in ihrem Leben. Steffi liegt auf dem sterilen Tisch, sie ist mit einem Opiat betäubt, das zehnmal stärker ist als Morphin. Um den Wangenknochen zu erreichen, geht die Chirurgin „sowohl von oben als auch von unten rein“. Mit einer feinen Zange zieht die Assistenzärztin das Augenlid nach unten, ihre Chefin trennt den Augapfel von der Bindehaut. Mit Werkzeugen, die an Sushi-stäbchen erinnern, arbeitet sie sich vor Richtung Knochen. Damit sich kein Blut sammelt, verödet sie die Gefäße; wieder brutzelt es ein bisschen wie Würstchen auf einem Grill. Am Bruch angekommen, greift sie nach einem winzigen Bohrer, sechs Millimeter lange Schrauben dreht sie in das Jochbein des Mädchens.
Die zweite Fraktur, so zeigen es die Röntgenbilder an der Wand, sitzt weiter unten, näher am Mund als am Auge. Im Zahnfleisch über den Zahnwurzeln setzt Hohlweg-Majert zum zweiten Schnitt an. Die obere Zahnreihe klappt nach unten, der Weg ist frei zum Wangenknochen. Wieder befestigt Hohlweg-Majert eine Platte, wieder vernäht sie den Schnitt.
Narben wird man keine sehen. Sie sind versteckt im Auge und im Mund. Die Alternative wäre ein Schnitt quer über die Wange gewesen, um den Knochen „von außen“ zu reparieren. Die Operation hätte das Mädchen entstellt. Unsichtbar zu arbeiten, das ist der Ehrgeiz der Ärztin. „Medizin und Ästhetik“ heißt deshalb die Praxis, die sie mit ihrem Kollegen Christoph Pautke führt. Man soll nichts sehen, nichts von den Knochenbrüchen, den Schnitten, den Eingriffen.
Wer MKGler werden will, muss lange studieren: Zwei Studiengänge schließen die Ärzte ab, Human- und Zahnmedizin. Danach folgen mindestens fünf Jahre als Assistenzarzt. In Hohlweg-Majerts Praxis stehen Bücher über Augenheilkunde und Neurochirurgie, über Implantologie und Anatomie. „Das ist das Tolle an unserem Beruf“, sagt eine Assistenzärztin. „Wir können so vielseitig operieren, Weichgewebe und Knochen.“
In der Klinik beträgt ihr Gehalt ohne Überstunden etwa 2500 Euro netto, der Tarifvertrag für werdende Fachärzte. Seit sich Hohlweg-Majert selbstständig gemacht hat, verdient sie etwa das Doppelte. Was fasziniert sie am Knochenbrechen und Kieferschleifen? „Mit meiner Arbeit kann ich Menschen helfen, ihr Selbstbewusstsein wiederzufinden“, sagt Hohlweg-Majert. Ein Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurg sagt sie, operiert nicht nur den Mund, nicht nur den Kiefer, nicht nur das Gesicht eines Patienten. Irgendwie operiert er auch seine Persönlichkeit. (Gesa Borgeest)
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