Leben in Bayern

Stadelheim: Der Knastalltag ist oft langweilig. Das Leseprojekt der Studierenden ist für viele eine willkommene Abwechslung. (Foto: dpa)

26.05.2017

Lesen hinter Stacheldraht

Literaturprojekt KonTEXT: Studierende besuchen straffällige Jugendliche im Gefängnis – im Gepäck haben sie Jugendromane und Kurzgeschichten

Sie sitzen wegen Diebstahl, Drogenhandel oder Körperverletzung in Stadelheim. Dort bekommen die Jugendlichen regelmäßig Besuch von Studierenden wie der 26-jährigen Nadine Jene. Sie liest mit ihnen Bücher. Das Ziel: zum Nachdenken anregen über die Lektüreinhalte und vor allem sich selbst. Denn das ist nicht selten ein erster Schritt in ein straffreies Leben. Noch immer ist Nadine Jene ein wenig aufgeregt, wenn sie vor der Justizvollzugsanstalt in Stadelheim bei München steht. Die meisten Menschen wollen diesen stacheldrahtbewehrten Betonklotz am liebsten so schnell wie möglich verlassen, die Münchner Studentin möchte aber hinein. Bevor sie die Jugendarrestanstalt zum ersten Mal betreten durfte, wurde sie gründlich überprüft. Denn hinter den Mauern der Vollzugsanstalt warten jedes Mal bis zu sechs straffällig gewordene Jugendliche auf Nadine Jene. Sie sitzen dort wegen unterschiedlicher Delikte wie Diebstahl, Drogenhandel oder Körperverletzung. Was die 26-Jährige dort will? Lesen!

Seit drei Jahren besucht Nadine Jene schon mit verschiedenen Studienkolleginnen die jungen Männer – zuerst als Leistungsnachweis im Rahmen ihres Lernbehindertenpädagogikstudiums, dann ehrenamtlich. Dass die Delinquenten zu Beginn oft nicht aus Interesse an Literatur kommen, sondern nur, um ihrer Zelle eine Zeit lang zu entkommen, stört Jene nicht. „Wenn sie erfahren, dass wir freiwillig kommen und uns ohne Bezahlung für sie interessieren, sind sie immer sofort dabei“, erzählt sie. Meistens werden gemeinsam Romanauszüge oder Kurzgeschichten laut vorgelesen. „Am Anfang trauen sich die Jugendlichen oft nicht, weil sie Angst haben, ausgelacht zu werden“, erklärt Jene. Nach einiger Zeit blühten die jungen Häftlinge meist aber regelrecht auf.

In Deutschland war die Jugendgerichtshilfe Dresden die erste, welche die Wirkpotenziale des Lesens erkannte. Caroline Steindorff-Classen, Professorin an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften an der Hochschule München, wurde durch einen Zeitungsbericht auf den „Dresdner Bücherkanon“ aufmerksam. Anschließend begann sie mit Studierenden, die Erfahrungen aus Sachsen und anderen Bundesländern auszuwerten. „Wir sind dann aber in München doch in vielen Punkten eigene Wege gegangen“, erzählt Steindorff-Classen. Und diese haben Rudolf Tippelt, Professor an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der LMU, so beeindruckt, dass er das Seminar der Kollegin als Angebot für Studierende auf Lehramt und im Bachelor-Studiengang Pädagogik aufnahm. Der Titel: „Pädagogische Arbeit mit delinquenten Jugendlichen –  Leseprojekt KonTEXT“.

Ziel des Projekts ist es, das Interesse der jugendlichen Strafgefangenen an Büchern zu wecken, sie zum Nachdenken anzuregen, ihre Bildung zu fördern und einen Rahmen für einen Gedankenaustausch zu schaffen. „Das literarische Gespräch bietet die Möglichkeit, literarische Inhalte zum Gegenstand von Anschlusskommunikation zu machen – eine Praxis, die sehr jugendnah ist“, verdeutlicht Studentin Julia Hugo, die zu diesem Thema forscht und für Projektteilnehmer einmal einen Workshop gehalten hat. Durch das literarische Gespräch werde eine Brücke zwischen der Lebenswelt der Jugendlichen und dem bei ihnen immer weniger beliebten Medium Buch gebaut.

Auch möglich: mit Lesen seine Haftzeit verkürzen

Tatsächlich ist das Projekt in den letzten sieben Jahren rasant gewachsen. Mehr als 3000 Jugendliche haben seither an einem der inzwischen mehreren Projektangebote teilgenommen. Dazu gehört seit 2012 auch die Einzelbetreuung von Jugendlichen, die wegen einer Straftat von der Justiz zur Teilnahme an dem Projekt außerhalb des Justizvollzugs verpflichtet werden. Allein vergangenes Jahr erhielten fast 300 Jugendliche sogenannte Leseweisungen von Jugendrichtern und Staatsanwälten, also die Auflage, unter Anleitung ausgewählte Bücher zu lesen und die Lektüreeindrücke am Ende in einer künstlerischen oder schriftlichen Abschlussarbeit zu verarbeiten. Die Begleitung der Jugendlichen findet bei den Leseweisungen überwiegend in der Hochschule München, teilweise aber auch an der katholischen Hochschulgemeinde der LMU statt. Hinzu kommen inzwischen pro Jahr rund 100 Lesegruppen, Textwerkstätten und Bildungsmaßnahmen in den Jugendarrest-anstalten München und Landshut sowie in der Jugendabteilung der Justizvollzugsanstalt München. Daneben gibt es noch ein spezielles Programm, in dessen Rahmen sich Schulschwänzer eine Verkürzung ihrer Haftzeit „erlesen“ können.

Dank der Studierenden konnte 2015 auch die Lesegruppe für junge Untersuchungshäftlinge in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim angeboten werden. Sabine Anselm, Leiterin der Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung an der LMU, verantwortet das Projekt, mit dem sie auch die wissenschaftliche Forschung zur Bedeutung des Lesens vorantreiben will. „Und die Lehramtsstudierenden können sehen, was hinter den Kulissen des Schulalltags los ist“, betont die Professorin für Deutschdidaktik mit langjähriger Berufserfahrung als Lehrerin.

Sie wirbt in der Lehrerbildung dafür, nachzudenken, wie durch Lesen im Deutschunterricht dazu beigetragen werden kann, dass Schüler gar nicht erst straffällig werden. „Das Thema interessiert die angehenden Lehrerinnen und Lehrer“, versichert sie. Und das Sammeln der konkreten Erfahrungen durch die Projektmitarbeit sei wichtig, damit möglichst viele Studierende ein Bewusstsein für die Problematik entwickeln können.

Am Anfang war die Zeit mit den Delinquenten für Nadine Jene manchmal hart. „Man stößt an seine Grenzen, wenn die Jugendlichen gravierende Probleme haben, die sich nicht in wenigen Stunden lösen lassen“, erzählt die Studentin. Doch der Einsatz lohnt sich. „Nicht nur die vielen positiven Rückmeldungen von Jugendlichen, sondern auch der persönliche und fachliche Gewinn lassen den hohen Aufwand gerechtfertigt erscheinen“, ergänzt Steindorff-Classen.

Tatsächlich ergab die Evaluation der Leseweisungen, dass 96 Prozent der straffälligen Jugendlichen eigenen Angaben zufolge zum Nachdenken angeregt wurden. 66 Prozent gaben an, von der Maßnahme profitiert zu haben. Über ein Drittel der Jugendlichen meinte, jetzt mehr Lust zum Lesen zu haben, und immerhin jeder Fünfte hatte am Ende der Maßnahme den Eindruck, dass ihm das Lesen jetzt leichter fällt.

Nur wenige Jugendliche konnten mit der Maßnahme nach eigenen Angaben nichts anfangen. Auf die Frage, was ihm gefallen habe, antwortete einer von ihnen: „Leider gar nichts, nur neue interessante Geschichten aus Büchern kennengelernt.“ Und genau damit zeigt er, dass Literatur ganz nebenbei – und auch bei ihm – Wirkung entfaltet hat.
(David Lohmann) Foto (BSZ): Eine Abschlussarbeit ist Pflicht: Die drei Punkte sind ein Knasttattoo.

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.