Leben in Bayern

Vier von über 50: Markus Zwingmann, Andy Riegel, Laila Quist und Nina Ditterich (von links) vom Projekt „Viertelkultur“. (Foto Christ)

02.11.2018

Menschlichkeit geht vor Profit

Junge Leute aus Würzburg wollen ein durchweg diskriminierungsfreies Café eröffnen – mit Fair Trade, Bio und Kunst

Für Jung und Alt. Arm und Reich. Mit oder ohne Handicap. Rund 50 junge Würzburger arbeiten an einem ambitionierten Projekt: einem Café, das in ihrem Viertel Zellerau Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Kultur fördern soll. Geht alles nach Plan, eröffnet das Lokal Ende des Jahres – und bietet dann auch Jobs für Menschen mit Behinderung und für benachteiligte Jugendliche.

Rund 50 junge Leute aus dem Würzburger Stadtteil Zellerau haben ein ambitioniertes Ziel: Sie wollen ein Café gründen, das für alle Menschen da ist. Für junge und alte. Für Menschen mit und ohne Handicap. Für Leute mit gut gefüllter Brieftasche. Und Personen, die nichts besitzen. Kurz: Ein durchweg diskriminierungsfreies Café soll entstehen. Selbst Wohnungslose, die nur wenige Meter entfernt in einer Obdachlosenunterkunft in der Zellerau leben, sollen willkommen sein.

„Seit Jahren träumen wir davon, bei uns im Viertel ein Café zu eröffnen“, erzählt Laila Quist. Sie ist Gründungsmitglied und Vorstandsfrau des Vereins „Viertelkultur“, der das Café realisieren will. Mit „wir“ meint Quist sich und ihre Freunde, die alle die soziale Einstellung verbindet. Zu acht haben sie den Verein gegründet, inzwischen sind sie über 50 Leute und es werden immer mehr. Der Mitgliedsbeitrag liegt bei 20 Euro im Jahr.

Freilich – mit diesem Betrag lässt sich kein Café eröffnen. Eine Bäckerei mit Cafébetrieb, die vor wenigen Monaten dicht machte, wird aktuell bereits umgebaut. „Wir haben einen Privatkredit aufgenommen, der auf mehrere Leute verteilt wurde“, erklärt Quist. Außerdem konnten erste Sponsoren gewonnen werden. Die Initiative hofft nun auf weitere Unterstützung von Organisationen wie der „Aktion Mensch“ und von öffentlichen Geldgebern.

Im Viertelcafé wird es nur Leckereien aus ökologisch erzeugten Lebensmitteln geben. Denn eine weitere Überzeugung der jungen Leute ist, dass nur ein nachhaltiger Lebensstil die gebeutelte Erde vorm Burnout bewahren könne. „Allerdings werden wir uns nicht ‚Bio-Café’ nennen“, betont Quist. Solche Etikettierungen können ihrer Erfahrung nach abschrecken, klingen sie doch nach „teuer“, „elitär“ und nach etwas „Besonderem“. Nach Ansicht der 30-jährigen Kunsttherapeutin sollte jedoch nichts selbstverständlicher sein als nachhaltig produzierte Lebensmittel. Der regionale Aspekt ist dem Team ebenfalls wichtig. Limo, Bier und Nahrungsmittel sollen aus der Region kommen. Die Jugendhilfe-Einrichtung KEEP aus Schwarzach am Main im Kreis Kitzingen, wo Quist als Kunsttherapeutin arbeitet, wird zum Beispiel künftig die Apfelsaftschorle liefern.

Rund 50 aktive Helferinnen und Helfer, die meisten direkt aus dem Stadtteil, packen mit an, damit aus der Idee Realität wird. Jeder bringt seine Talente und Stärken ein – ob beim Umbau, der Planung oder der Abwicklung bürokratischer Angelegenheiten, etwa bei der Antragstellung an die Stadt. Viele helfen auch nur einmalig. Da ist zum Beispiel der Elektriker, der zwei Stunden Zeit hat und vorbeischaut, um ein paar Steckdosen zu installieren. Ein anderer Helfer entsorgt einmal die Woche den Müll.

Mit dabei: Therapeuten, Pädagogen, Kulturmanager

Etwas mit einem so großen Team auf die Beine zu stellen, ist nicht immer einfach. 50 Freiwillige bedeuten schließlich auch 50 unterschiedliche Vorstellungen darüber, was das „Café Viertelkultur“ künftig einmal leisten soll. Gedanken hierzu werden gesammelt, diskutiert, gefiltert, mit der Realität abgeglichen, weitergesponnen oder verworfen.

Ein Ziel allerdings bleibt dabei aber immer fest im Blick: Am Ende soll ein sozial orientiertes, komplett barriere- und diskriminierungsfreies Café entstehen. „Das ist sozusagen das Bühnenbild, das wir schaffen“, erklärt Dirk Geldermann vom Helferteam. Wie die „Bühne“ später einmal bespielt wird, sei noch völlig offen: „Wir wissen im Moment selbst nicht, was am Ende genau herauskommt.“

Dass es das Projekt gibt, sprach sich schnell im Viertel herum. Die Idee, etwas zu schaffen, was ausnahmslos alle einbezieht und nicht profitorientiert ist, kommt an. Auch Dirk Geldermann fühlte sich sofort angesprochen. Nach einer beruflichen Zäsur begab er sich vier Monate lang auf eine Radtour, um darüber nachzudenken, wohin seine berufliche Reise gehen könnte. Zurückgekehrt, hörte er von „Viertelkultur“– und stieg sofort ein. Sein Traum wäre es, sich später einmal festangestellt im Projekt zu engagieren.

Auch Markus Zwingmann und Andy Riegel helfen freiwillig mit. Die beiden sind Heilerziehungspfleger. Und auch ihre Expertise ist wichtig, da „Viertelkultur“ später einmal Menschen mit Handicap Jobs anbieten möchte. Riegel ist gleichzeitig Kulturmanager. Er verfügt damit über eine weitere Kompetenz, die dringend benötigt wird, denn die „Viertelkulturler“ wollen künftig Musikern, Literaten und Künstlern aus dem Stadtteil eine Plattform bieten.

Dirk Geldermann bringt ebenfalls eine ganze Palette an Kompetenzen ein. Er ist gelernter Handwerker, verdiente seine Brötchen aber auch schon in der Gastronomie. Nach seinem Studium der Sozialpädagogik arbeitete er mit behinderten Menschen. Zuletzt war er in einem Bildungszentrum für Jugendliche mit Lernbehinderung, psychischen Problemen und Autismus tätig. „Dort leitete ich eine Wohngruppe.“ Geldermann weiß deshalb nur zu gut, wie wichtig es ist, benachteiligten Jugendlichen Jobchancen zu eröffnen: „Genau das wollen wir tun, sobald wir im Café eine gewisse Routine gewonnen haben.“ Jugendliche, die noch keinen Fuß im Arbeitsmarkt haben, könnten zum Beispiel Praktika im Servicebereich absolvieren.

„Auch mich zieht das neue Café wie magisch an“, meint Erika, 64 Jahre alt, die in der Zellerauer Mittelschule als Lehrerin tätig ist. Vor allem die Idee, benachteiligte Jugendliche mit dem Café zu unterstützen, findet sie klasse. Damit sei ja auch ihre „Klientel“ gemeint: „Viele unserer Schüler haben in der Arbeitswelt keine allzu guten Karten.“ Toll fände sie es, wenn Kunstprojekte aus der Schule später einmal im Café präsentiert werden könnten.

Kostspielig: Barrierefreie  Toilette auch für E-Rollis

Bis Jahresende, so der Plan, soll alles fertig sein. Ist das Café am Start, würde Laila Quist gern die Gesamtleitung des Projekts übernehmen. Nach jetziger Planung soll das Café täglich von 8 bis 21 Uhr geöffnet sein. Initiativen können die Räumlichkeiten in dieser Zeit nutzen, um Workshops, Vorträge oder Diskussionen anzubieten. Der hintere Teil des Lokals wird als gemütliches Kindercafé gestaltet und soll als Treffpunkt für junge Familien dienen.

So weit ist es aber noch lange nicht. Gerade gab es einen Tag der offenen Tür auf der Baustelle des Cafés. Diesen Termin einzuhalten, war schon eine große Herausforderung. „Wichtig war uns, dass die Toilette barrierefrei ist“, sagt Geldermann. Das hat das Team auch geschafft. Auch die alten, zerschlissenen Polster konnten noch rechtzeitig mit neuem Stoff überzogen werden. Doch nach wie vor ist eine Menge zu tun. „Mit einem E-Rollstuhl kommt man noch immer nicht in unsere Toilette hinein“, gibt Geldermann zu. Auch muss die Küche noch umgebaut werden. Und es braucht eine Rampe vor der Türe. Vieles hängt auch am Geld. Aktuell klafft eine Finanzierungslücke von 30 000 Euro. Mit einer Crowdfunding-Aktion soll weiteres Geld hereinkommen. Auf der Plattform Startnext zu sehen, wird das Vorhaben in einem selbst gedrehten Film erklärt.
(Pat Christ)

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