Leben in Bayern

Sebastian Kuhn surft am liebsten um fünf Uhr morgens – da hat er die Welle weitgehend für sich. Kleines Bild: Auch im Winter trifft man den 37-Jährigen am Eisbach. (Fotos: Nadine Seuß)

16.08.2019

München statt Hawaii

Weil die Eisbachwelle im Englischen Garten mittlerweile Surfer aus aller Welt anlockt, kommen Locals am frühen Morgen, nachts und sogar im Winter

Sebastian Kuhn tanzt im Licht der ersten Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen schimmern. Er biegt seinen Körper, richtet sich auf, geht in die Hocke und wagt einen Sprung. Butterweich landet er auf dem rauschenden Wasser, jagt von rechts nach links und springt erneut, das Brett an den Füßen. Dann schluckt ihn das Wasser. Zurück bleibt die Welle. Diese kühle Wucht, die sich einen halben Meter hoch aufbäumt, am Zenit zu weißem Schaum kräuselt und –  als wäre nichts gewesen – gemächlich weiterfließt. Während München noch schläft, rauscht der Eisbach laut wie eine befahrene Autobahn durch den Englischen Garten. Mittendrin treibt Kuhn, greift nach einem Ast, der über dem Wasser hängt, und zieht sich heraus.

Es kommt nicht selten vor, dass einem mitten in München Menschen im Neoprenanzug und mit einem Brett unter dem Arm begegnen – selbst zu ungewöhnlichen Tages- und Nachtzeiten. So wie Sebastian Kuhn, der sein Surfbrett an diesem Tag schon um fünf Uhr morgens vom Motorrad schnallt. Die Haare sonnengebleicht und verwuschelt, der Körper trainiert, ohne zu muskulös zu sein. „An schönen Tagen ist es mir tagsüber zu voll“, erklärt der 37-Jährige, während er sein Brett mit Surfwachs präpariert. „Man wartet länger in der Schlange, als dass man auf der Welle surft. Das nervt.“

Jahrzehntelang war das Baden und Surfen im Eisbach verboten. Gehalten hat sich daran keiner. Mittlerweile hat die Stadt das Surfen legalisiert und damit noch mehr Wellenreiter angelockt. Über 2000 sollen es in München sein. Dazu kommen viele Besucher. Und auch die Zuschauerzahlen sind gestiegen. Im Sommer ist die Steinbrücke an der Prinzregentenstraße so voll, dass Fußgänger und Fahrradfahrer nur mit Mühe vorbeikommen. Unter der Reiseführer-Rubrik „Attraktionen“ erfahren Touristen: München ist die Stadt des Biers, des Oktoberfests und des Surfens! Auf Tahiti muss man Boote mieten, um Surfer zu bestaunen. In München reicht ein Busticket zum Haus der Kunst.

Für Wagemutige in Neoprenanzügen ist die Münchner Eisbachwelle bereits seit Jahrzehnten eine attraktive Anlaufstelle für Surfer. Angefangen hat alles mit einer kleinen Welle, die immer dann entstand, wenn sich viel Kies im Flussbett angesammelt hatte und die Strömung dadurch auf ein Hindernis stieß. Kaum hallte der Satz „Die Welle steht“ wie Buschgetrommel durch den Englischen Garten, rannten einige Münchner wie Wahnsinnige zum Eisbach und sprangen mit ihren selbst gebastelten Brettern in die Fluten.

Immer wieder zerbrach man sich den Kopf, wie man die Welle dauerhaft erhalten könnte. Eines Tages soll jemand die Initiative ergriffen und eine Eisenbahnschwelle ins seitliche Flussbett montiert haben. „Es war ein Werk für die Ewigkeit“, bestätigt Kuhn dankbar. „Seitdem erzeugt der Eisbach rund um die Uhr eine etwa eineinhalb Meter hohe stehende Welle, die sich –  anders als die im Meer – nicht fortbewegt, sondern immer läuft.“ Mit Ausnahme von zwei Wochen im Jahr, in denen die Bachauskehr zum Reinigen des Kanals stattfindet und Ebbe herrscht. Dann kann man sehen, wie Surfer bemüht lässig über die Brücke laufen und nach unten ins nackte Flussbett schauen. Noch immer nichts.

Absolut nachvollziehbar, findet Sebastian Kuhn und schmunzelt. Die Stabilität der Welle, der konstante Durchfluss des Wassers, die gute Erreichbarkeit in der Münchner Innenstadt und das urbane Flair machen den Eisbach zu einer ganz besonderen Anlaufstelle. Der gebürtige Unterfranke hat lange Zeit in Garmisch-Partenkirchen und München gelebt. Mittlerweile pendelt der Marketingkoordinator zwischen seinem Job in Oberammergau und der Eisbachwelle im Englischen Garten. Selbst im Winter ist er – wenn er gerade nicht auf dem Snowboard steht – am Eisbach zu finden. „Der Vorteil ist, dass alle Schönwetter-Surfer zu Hause bleiben und nur der hartgesottene Kern am Start ist“, berichtet Kuhn. „Man kann länger surfen und ist am Ende so richtig ausgepowert.“

Zu gefährlich: Anfänger werden weggeschickt

Der Unterschied zum Surfen im Meer? „Im Fluss kommt die Welle von vorne, im Meer von hinten“, erklärt Kuhn. „Im Meer muss man sich die Welle erst erpaddeln, braucht einen Take-off und fährt dann mit ihr in eine Richtung.“ Im Fluss hingegen stehe man nach dem Sprung auf die Wasseroberfläche sofort auf der Welle und fahre auf ihr hin und her. „Zwar bleibt eine Flusswelle immer gleich, wodurch man Surf-Moves gezielt üben kann, allerdings ist man auf eine viel kleinere Fläche beschränkt.“ Im Meer habe man deutlich mehr Platz, dafür gleiche keine Welle der anderen. Zudem könne sie jederzeit brechen, sodass man sie genau lesen und sehr schnell reagieren müsse. „Fest steht: Wer am Eisbach Surfen lernt, bekommt ein sicheres Gespür für Kurventechnik und lernt raffinierte Tricks“, fasst Kuhn zusammen. Flusswellenreiten sei eben auch eine Kunst. Dass es dafür eine spezielle Technik braucht, musste sich sogar der US-Musiker und passionierte Surfer Jack Johnson eingestehen, als er einmal vor seinem München-Konzert eine Eisbach-Session einlegte und kläglich versagte. Und auch Profi-Surfer wie Kelly Slater und Garrett McNamara hatten zunächst Schwierigkeiten, die Welle in den Griff zu bekommen.

„Die Eisbachwelle ist definitiv keine leicht zu surfende Flusswelle, ganz im Gegenteil“, bestätigt Kuhn. Anfänger sind dort deshalb eher fehl am Platz. Ihnen wird – mehr oder weniger freundlich – empfohlen, sich die nötigen River-Surfing-Skills erst auf der kleinen Eisbachwelle „E2“ oder an der Floßlände in Thalkirchen anzueignen. „Manche Locals sind in dieser Hinsicht ziemlich streng – aber zu Recht“, findet Kuhn. Es habe weniger damit zu tun, dass sie den Spot für sich allein haben wollen. So wie damals, als die Surfer der ersten Stunde sogar Kelly Slater nach Hause schickten. Vielmehr sei das Verletzungsrisiko ohne Vorkenntnisse einfach zu groß, so Kuhn. Und zu viele Verletzungen könnten den Fortbestand der Welle gefährden. Von der Polizei in Handschellen abgeführte Surfer, beschlagnahmte Bretter und saftige Bußgelder gab es in der Vergangenheit bereits genug – das solle sich nicht wiederholen, betont er.

Die Gischt spritzt, als ein junger Surfer eine enge Kurve zieht, bereit für den nächsten Turn auf der Welle. Sebastian Kuhn steht mit geöffnetem Neoprenanzug in der Sonne und schaut ihm zu. Es ist jetzt kurz vor 7 Uhr. Die Arbeit ruft. „Ein letztes Mal diese Woche, morgen geht es mit den Jungs zum Surfen nach Südfrankreich“, verkündet er breit grinsend, und seine Augen leuchten. Denn die Eisbachwelle ist zwar ein heiliger Ort für jeden Münchner Surfer, aber trotzdem ein Stück weit nur ein Ersatz für das weit entfernte Meer.

Mit wenigen Handgriffen befestigt Kuhn sein Surfbrett am Motorrad, ein letzter Gruß, dann verschwindet er in der Morgensonne – ausgepowert, zufrieden und in Gedanken schon beim nächsten Surf-Abenteuer.
(Anna Karolina Stock)

Kommentare (1)

  1. sg2019 am 29.08.2019
    Gibt es nicht nur in München.
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