Leben in Bayern

51 Stunden standen Autofahrer in München im vergangenen Jahr durchschnittlich im Stau. Und der ÖPNV ist an der Kapazitätsgrenze. (Foto: dpa)

28.05.2018

München vor dem Verkehrskollaps

Verspätete S- und überfüllte U-Bahnen gehören inzwischen zu München wie der Marienplatz. Den Verkehrsunternehmen, der Stadt und der Staatsregierung ist das Problem bewusst. Dennoch scheint keine Besserung in Sicht. Warum?

Arbeiten mit Alpenblick oder Grillen an der Isar - das ist München. Kilometerlange Staus und überfüllte U- und S-Bahnen - auch das ist München. Von 2010 bis 2015 sind so viele Menschen zusätzlich in die Landeshauptstadt gezogen wie in Erlangen wohnen: 114 000. Inklusive der umliegenden Landkreise leben fast drei Millionen Menschen in der Region - ein Viertel der Bayern.

Dieses Bevölkerungswachstum bringt den Verkehr an den Rand des Kollapses. 51 Stunden standen Autofahrer in München im vergangenen Jahr durchschnittlich im Stau. So lange wie sonst nirgendwo in Deutschland. Das hat der Verkehrsdatenanbieter Inrix berechnet. Im Februar entschuldigte sich die Deutsche Bahn, nachdem Tausende Pendler in der Kälte auf verspätete S-Bahnen gewartet hatten. Bis zu 840 000 Fahrgäste transportiert die S-Bahn täglich. Ausgelegt war sie beim Bau für 280 000.

Zum ersten Mal fuhr die S-Bahn 1972, dem Jahr der Olympischen Spiele. Nach mehr als 40 Jahren stoße das System an seine Grenzen, heißt es von der Deutschen Bahn und vom Verkehrsministerium.

Kapazitätsgrenzen werden auf machen Strecken bereits überschritten

Alexander Freitag, Chef des Münchner Verkehrsverbundes (MVV), sagt: "Vor allem in den Hauptverkehrszeiten sind wir im MVV bei den Schnell- und Trambahnen und auf manchen Busverbindungen an der Kapazitätsgrenze". Teilweise werde sie auch überschritten. 716 Millionen Fahrgäste transportierte der MVV im vergangenen Jahr - fünf Million mehr als 2016, täglich etwa 13 700 zusätzliche Passagiere.

"Das spüren die Menschen jeden Tag", bestätigt Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) die Situation. Die Konsequenzen bleiben nicht in München, sie ziehen mit den Pendlern bis nach Augsburg, Ingolstadt, Nürnberg oder Rosenheim. In dem 10 000-Einwohnerort Mering bei Augsburg verstopfen Pendler die Parkplätze am Bahnhof, weil von Mering eine Regionalbahn nach München fährt. 355 000 Menschen fahren zur Arbeit nach München hinein, nicht nur mit der Bahn, auch mit dem Auto. 2017 kürte das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung München mit diesen Zahlen zur Pendlerhauptstadt.

Die Stadt prognostiziert, dass München bis 2035 weiter auf 1,8 Millionen Einwohner wächst. Ob der Kollaps dann kommt, hängt wohl davon ab, wie man Kollaps definiert. Im Kern sind sich alle Beteiligten einig, was es braucht: mehr Nahverkehrsstrecken, Rad-Infrastruktur und "Tangentialverbindungen". Gemeint sind Bus- oder Bahnverbindungen zwischen den Landkreisen, damit Pendler das Zentrum umgehen können. "Keine Frage, die Verkehrsplanung ist das zentrale Zukunftsthema für unsere Stadt", sagt Reiter. Wenn sich alle einig sind, warum ist keine Besserung in Sicht?

Verkehrs- und Wohnsituation bremst wirtschaftliche Entwicklung

"Man hat in den letzten Jahrzehnten viel zu wenig in die Infrastruktur investiert, weil man gemeint hat, so schnell wächst die Bevölkerung nicht", sagt Christian Breu vom Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum München. "Die wirtschaftliche Entwicklung wird jetzt schon durch die Verkehrs- und Wohnungssituation gebremst. Mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe haben erhebliche Probleme, Personal zu finden." 9300 Wohnungen müssten jedes Jahr zusätzlich entstehen, um den Bedarf bis 2030 zu decken. Das zeigt eine Studie des Forschungsunternehmens Prognos und des Versicherers Allianz. Von 2011 bis 2017 ist die durchschnittliche Kaltmiete nach Angaben der Stadt um knapp 15 Prozent gestiegen.

Im öffentlichen Verkehr Münchens ist das Nadelöhr die Stammstrecke der S-Bahn, die teils unterirdisch quer durch die Innenstadt verläuft. In jeder Richtung fährt alle zwei Minuten eine Bahn. Bleibt aber ein Zug liegen, zum Beispiel weil Personen im Gleis rumlaufen oder es technische Probleme gibt, legt dies den S-Bahnverkehr im gesamten Abschnitt lahm. Weil es innerhalb der Stammstrecke keine Ausweichmöglichkeiten gibt. Der Bau einer zweiten Stammstrecke soll helfen. Ein weiterer Tunnel mit weniger Haltestellen, parallel zur bisherigen Stammstrecke. Kosten: knapp vier Milliarden Euro.

Nur brauchen Projekte mit großer Wirkung vor allem eines: Zeit. 15 Jahre dauerte die Planung der zweiten Stammstrecke, frühestens in acht Jahren soll sie fertig sein. Anfang der 2000er Jahre seien eher schrumpfende Städte das Thema gewesen, heißt es aus dem Verkehrsministerium. Und jetzt sei man eben spät dran. "Wir alle sind dafür verantwortlich, weil wir alle wesentlich größer wohnen wollen als vor 20 oder 30 Jahren und weil wir mit unserem Lebensstil mehr Fläche benötigen", sagt Breu. Die Politik habe den Bevölkerungs-Boom verschlafen, sagt Andreas Barth vom Fahrgastverband Pro Bahn in München.

Was vor allem fehlt: Planerische Ideen

Für Wissenschaftler Michael Bentlage vom Lehrstuhl für Raumentwicklung an der Technischen Universität München müsste die Staatsregierung die Erarbeitung eines Konzeptes für die Metropolregion stärker vorantreiben. Barth vom Fahrgastverband Pro Bahn wirft dem Freistaat vor, keine weiteren Projekte anzugehen, bevor die neue Stammstrecke nicht gebaut sei. Breu sagt, es gebe nicht genug finanzielle Mittel: "Wir leiden nicht unter zu wenig planerischen Ideen, sondern es dreht sich sehr viel ums Geld, das nicht da ist."

Ist es so einfach? Die Staatsregierung ist schuld? Das Verkehrsministerium hält dagegen: Der Freistaat beteilige sich an Projektfinanzierungen, auch wenn er dies nicht müsse. Beispielsweise sei der Baubeginn der zweiten Stammstrecke nur möglich, weil der Freistaat Geld vorfinanziere, das eigentlich vom Bund kommen müsste.

Die Kritik einer fehlenden Strategie für die Region weist das Verkehrministerium ebenfalls zurück: Es werde ein Verkehrspaket für den Großraum München geschnürt. Es gehe insbesondere darum, einzelne Projekte schneller voranzutreiben, in dem man alle Akteure an einen Tisch bringe. Im Sommer will das Verkehrsministerium das Paket vorstellen, nach diesem Vorbild sind dann weitere Verkehrspakete in Augsburg, Nürnberg und Regensburg vorgesehen.

Kurzfristige Lösungen mit großer Wirkung gibt es kaum

Und was ist mit dem Vorwurf, es passiere nichts, bevor der Tunnel nicht gebaut sei? Im Herbst soll eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden, sagt das Verkehrsministerium dazu. Darin würden unter anderem ein Ausbau ringförmiger Bahnstrecken im Norden und Süden der Stadt geprüft. Dort gibt es bereits Gleise. Im Süden nutzen Regionalzüge die Strecke, im Norden Güterzüge. Allein die Planung für große Projekte dauert allerdings Jahre. Grundsätzlich gibt das Ministerium zu: Die Kapazitäten sind begrenzt. Auch in Planungsbüros, bei der Bahn, in der Stadtverwaltung.

Kurzfristige Lösungen mit großer Wirkung gibt es kaum. Zu spät wohl hat München angefangen, der Bevölkerung hinterherzuwachsen. Die Gründe dafür sind vielfältig und komplex. Dennoch meint Breu: "Insgesamt jammern wir auf hohem Niveau". Es sei im Großraum München gelungen, den Verkehr halbwegs vernünftig abzuwickeln, auch im Vergleich mit anderen Städten wie Berlin, Frankfurt oder Stuttgart. "Halbwegs vernünftig" - das klingt nicht nach dem Maßstab, an dem sich München oder Bayern in der Regel misst.
(dpa)

Kommentare (3)

  1. Kay-Uwe am 30.05.2018
    Klar, Thomas, sobald einer nicht Begeisterung zeigt über die teuren Einwanderer, wird er mit KZ und SS gleichgestellt - Gesinnungsterror hoch 3!
  2. Thomas am 29.05.2018
    Tina, was soll diese braun versiffte Kacke hier? Dein Kommentar ist die erste Frechheit, die zweite das im Artikel genannte Versagen der Verkehrspolitik. Das "freie Fahrt für freie Bürger" nicht funktioniert, und in seiner Reinform nicht funktionieren kann, hätte man schon weit früher erkennen können. Für die drei unterirdischen Abschnitte der "Münchner Stadtautobahn" hätte man auch ettliche Kilometer an öffentlichen Verkehrsmitteln bauen können.
  3. Tina am 29.05.2018
    Es ist kein Geld da???
    Also seit dem vollmundigen „Wir schaffen das!“ sollten die Bürger diesen Satz nicht mehr hinnehmen. Wir haben 80 Milliarden Euro, um Auslänser zu alimentieren, die nicht einen müden Cent zum Bruttosozialprodukt beigetragen haben. Frechheit.
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