Leben in Bayern

Über Märchen und Fabeln fördern (von links) Karola Graf, Gesine Kleinwächter und Kerstin Lauterbach das Sprachverständnis von Kindern. (Foto: Christ)

21.04.2023

Nächste Stunde: Märchenkunde

Seit zehn Jahren gibt es in Würzburg ein Schulprojekt, bei dem Kindern durch das Erzählen von Geschichten viele wertvolle Themen vermittelt werden

Der Knackpunkt war am Anfang die skeptische Frage: „Und das soll wirklich etwas bringen?“ Gesine Kleinwächter und Karola Graf wussten: Ja, es bringt etwas! Es bringt sogar sehr viel, wenn Kindern Märchen erzählt werden. Vor zehn Jahren ließen sich die ersten Schulen auf ihr Projekt „Erzählkunst macht Schule“ ein. Es dauerte kein Schuljahr, „und die Lehrkräfte hatten Feuer gefangen“, sagt Graf. Denn die positiven Effekte auf die Kinder zeigten sich rascher als gedacht.

Vieles in der Schule läuft auf die Reproduktion fremder Gedanken hinaus. Kinder lernen, was Dichter und Denker, was Mathematiker und Biologen erkannt und formuliert haben. In den Erzählkunststunden von Gesine Kleinwächter, Karola Graf und Kerstin Lauterbach, seit 2015 dritte im Bunde der professionellen Märchenerzählerinnen, geht es um mehr. „Es geht um die Bilder, die im Kopf der Kinder entstehen“, erklärt Graf.

Da ist zum Beispiel von einem Wald die Rede. Vielleicht dem Wald von Hänsel und Gretel. Der kann furchtbar düster sein. Oder zumindest etwas licht. Wilde Tiere können ihn bevölkern. Wölfe vielleicht. Füchse. Oder Dachse. Je nachdem, was ein Kind vom Wald weiß.

Erzählkunst verbindet Kinder aus allen Ländern

Schulen sind heute so heterogen wie nie zuvor, jede Massenflucht aus einem der Kriegsgebiete dieser Welt schlägt sich binnen kürzester Zeit in den Klassenzimmern nieder. Auch die drei Märchenerzählerinnen haben es mit Kindern zu tun, die aus allen Teilen dieser Welt stammen. Nicht zuletzt sie profitieren von dem Sprachförderprojekt, das in diesem Schuljahr zehnjähriges Bestehen feiert. „Durch uns lernen die Kinder nicht nur Märchen aus unserem Kulturkreis kennen, sondern wir erzählen ihnen auch syrische, kroatische, russische, französische oder englische Märchen“, berichtet Karola Graf.

An einem der sieben Projektstandorte wird sogar bis zu sechsmal im Jahr bilingual erzählt. Die Kinder fiebern mit den Märchenhelden mit, sie goutieren quietschvergnügt lustige Episoden, staunen über den fabulösen Reichtum der Märchenwelt und bringen mit ein, was ihrer Fantasie entspringt.
In einem Teilprojekt, das gerade an einer Würzburger Grundschule entsteht, erlebt Gesine Kleinwächter, was es bringt, wenn sich Kinder Woche für Woche mit kunstvoll erzählten Märchen auseinandersetzen. Die Märchenerzählerin kreiert gerade ein Märchenbuch mit Erst- bis Viertklässlern. Die Kids der ersten und zweiten Klasse bebildern klassische Märchen. Die Großen denken sich selbst Märchen aus: „Und das schaffen sie in einer einzigen Schulstunde.“

In aller Regel sind die Kinder „Auge und Ohr“, obgleich sie nicht viel „Input“ bekommen, sagt Gesine Kleinwächter: „Es gibt keine Musik und keine Bilder, nichts wird aufoktroyiert.“ Einen Märchenkoffer allerdings haben sie alle drei dabei. Daraus ziehen die Erzählerinnen erstaunliche Objekte.
„Was ist das?“, fragt Kerstin Lauterbach und hält ein kleines Spinnrad in die Höhe. Die Kinder rätseln. „So was wie eine Nähmaschine“, meint ein Mädchen. Kerstin Lauterbach schaut auf das Spinnrad und nickt: „Schöne Idee, das könnte sein. Hat jemand noch eine andere Idee?“

Jede Antwort ist willkommen. Jede gut. Keine falsch. Alles ist interessant. Und Noten gibt es selbstverständlich nicht. Manchmal erscheint es den Helden im Märchen, als wäre ihnen nun endgültig das letzte Quäntchen Hoffnung genommen. Doch das scheint nur so. „Letztlich geht es immer weiter“, sagt Karola Graf. Am Ende wird alles immer gut.

Eben das ist wichtig. Für das Märchen. Aber ganz besonders für das Projekt: „Dadurch, dass die Kinder im Märchen erleben, dass am Ende alles gut wird, wird ihr Vertrauen in die Welt gestärkt.“ Sehr positive Effekte habe es außerdem, dass die Kinder immer in die Figur des Helden hineinschlüpfen können. Davon profitieren vor allem die Außenseiter in der Klasse: „In diesem Moment sind sie nicht mehr die Schwachen.“

Die einzelnen Stunden funktionieren auch nach zehn Jahren nicht nach bewährtem Rezept. „Ich setze mich jedes Mal wieder neu mit der konkreten Klasse, mit den einzelnen Kindern und mit den Themen, die in nächster Zeit im Unterricht anstehen, auseinander“, erklärt Gesine Kleinwächter. Es ist also nicht so, dass sie, bevor sie sich auf den Weg in ihre Schule macht, wahllos irgendein Märchen aus dem Bücherschrank zöge. Jede Stunde wird gründlich vorbereitet. Die Lehrerinnen sollen schließlich, wenn irgend möglich, mit den Geschichten weiterarbeiten können. So wurde neulich in der Kunsterziehung ein Bergkönig mit Eiszapfenbart gemalt.

Selbst Kinder, die sonst meist still in der Ecke sitzen, beteiligen sich lebhaft am Fabulieren. Und Jungs, die nach außen gern den starken Macker markieren, finden, die Stunde mit ihr sei „die coolste Stunde“ überhaupt, berichtet Karola Graf.

Sprachprojekte für Kitas und Schulen, konstatiert die Märchenerzählerin, gibt es heute viele. Das von ihr mitbegründete Projekt Erzählkunst macht Schule weist eine Besonderheit auf, die anderen Projekten fehlt: „Wir erleben, dass die Bilder der Märchen Seelenfutter für die Kinder sind.“ Daran habe sich bis heute nichts geändert. Trotz des seit 2013 deutlich gestiegenen Medienkonsums: „Nach wie vor hängen die Kinder an unseren Lippen.“

Nur selten werden die Erzählerinnen mit der Unmöglichkeit konfrontiert, sich auf die Erzählkunststunde einzulassen. In letzter Zeit, so Gesine Kleinwächter, sei dies manchmal durch die Jungen und Mädchen aus der Ukraine vorgekommen. „Einige ukrainische Kinder sind bei unseren Märchenstunden eifrig dabei, allerdings haben wir genauso viele, die sich komplett verweigern“, schildert sie ihre Erfahrungen. Diese Kinder wollen nicht in der Schule sein. Egal, was auf dem Programm steht. Sie wollen überhaupt nicht in Deutschland sein: „Das Einzige, was diese Kinder wollen, ist, endlich wieder nach Hause gehen zu können.“

Krieg kommt nur am Rande in Geschichten vor

Nun gut, das sind vitale Interessen. Die drei Frauen können das Heimweh der Kids gut nachvollziehen. Zumal die meisten Väter der Jungen und Mädchen an der Front sind. Die Kinder wissen nicht, ob sie ihre Papas nach dem Krieg wiedersehen. Oder ihre Freunde.

Apropos Krieg: Der kommt laut Karola Graf allenfalls am Rande in den Geschichten vor: „Da ist vielleicht mal von einem König die Rede, dessen Heer gerade kämpft.“ Das wühlt in den Kids nichts auf. Nur einmal gab es einen inhaltlichen Konflikt: „Ein ukrainischer Junge äußerte, dass er keine russischen Märchen mag.“ In seinem Bild zu Mascha der Bär beschießen sich zwei Kämpfer mit Maschinenpistolen.

Niemand soll den Kindern mehr die Märchenstunden wegnehmen. Da sind Karola Graf, Gesine Kleinwächter und Kerstin Lauterbach fest entschlossen. Dafür wollen sie sich auch in den kommenden zehn Jahren einsetzen. Allein aus politischen Gründen ist das Projekt für Gesine Kleinwächter so wichtig: „Es braucht Sprache, es braucht Worte, man muss sich gut ausdrücken können, um seine Meinung zu äußern und um demokratisch mitzugestalten.“

In Krisenzeiten, in denen alles getan wird, um unnötige Kosten zu vermeiden, bleibt die Finanzierung des Projekts auch nach zehn Jahren schwierig. Unverbrüchlich hinter der Initiative Erzählkunst macht Schule steht die Volkacher Märchen-Stiftung Walter Kahn. Die Stadt Würzburg fördert das Projekt inzwischen zum zweiten Mal für ihre städtischen Schulen. Auch die Stadt Karlstadt leistet einen finanziellen Beitrag. Ansonsten versuchen die Schulen über ihre Fördervereine, Geld für die Märchenstunden aufzutreiben. Mitunter hilft ein Lions Club. Oder es fließt Geld über Crowdfunding ein. (Pat Christ)
 

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