Leben in Bayern

Kamerateams stehen vor dem Haupteingang des Klinikums Schwabing. Der erste bestätigte Coronavirus-Patient in Deutschland lag Ende Januar 2021 dort auf der Isolierstation. (Foto: dpa/Sven Hoppe)

26.01.2021

"Niemand glaubte an Pandemie dieses Ausmaßes"

Läden dicht, Schulen geschlossen, Ausgangssperre: Als vor einem Jahr die ersten Fälle in Deutschland gemeldet wurden, lag das außerhalb jeder Vorstellung. Inzwischen hat Corona das Leben weltweit radikal verändert

Mit ihren Laptops unter dem Arm und ein paar persönlichen Dingen verließen die Menschen frühmorgens eilig das Gebäude: Homeoffice. Die rund 1200 Mitarbeiter des Autozulieferers Webasto in Stockdorf bei München folgten vor einem Jahr dem dringlichen Aufruf der Firmenleitung. Spätnachts am 27. Januar 2020 hatte das bayerische Gesundheitsministerium den bundesweit ersten Corona-Fall gemeldet - ein Webasto-Mitarbeiter.

Keine 48 Stunden später schloss das Unternehmen die Tore - um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, das noch nicht den wissenschaftlichen Namen Sars-CoV-2 trug. Die Rede war damals von einer neuartigen Lungenkrankheit - der Name Covid-19 kam später.

"Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine Empfehlungen von Behörden oder Wissenschaftlern. Wir haben die Lage in der Task Force diskutiert", sagt Firmenchef Holger Engelmann im Rückblick. "Wir benötigten schnell eine effektive Maßnahme, und da habe ich gesagt: "Das machen wir jetzt einfach, wir schließen ab.""

Die Panik vor dem neuen Virus blieb zunächst lokal. Während in Stockdorf Menschen die Apotheken stürmten, wo Mund-Nasen-Schutz und Desinfektionsmittel binnen eines Tages ausverkauft waren, feierten andere in angesagten Skiorten oder anderswo wie eh und je. Viele hielten das Vorgehen von Webasto und den Trubel um die ersten Corona-Fälle für völlig übertrieben. Die Leute benähmen sich, als sei die Pest ausgebrochen, schimpfte ein Hausarzt in Gauting damals.

Mehr als zwei Millionen Menschen sind weltweit gestorben

Seitdem haben sich weltweit etwa 100 Millionen Menschen infiziert. Mehr als zwei Millionen sind gestorben, deutschlandweit gibt es rund 50 000 Tote. Homeoffice ist weltweit vielerorts fast Normalität. In zahlreichen Ländern sind Schulen und Läden geschlossen. Es gibt Ausgangssperren und abgeriegelte Grenzen. Die Digitalisierung erfährt einen immensen Schub - und in nie gekanntem Rekordtempo sind Impfstoffe auf den Markt gekommen.

Als vor einem Jahr die ersten Patienten aus Stockdorf in der München Klinik Schwabing eintrafen, sah es zunächst fast nach Routine aus. Schließlich sei man fast jedes Jahr mit neuen Infektionskrankheiten konfrontiert, etwa Sars, Mers, Ehec und Ebola, sagt Clemens Wendtner, Chefarzt der dortigen Klinik für Infektiologie, wo die ersten Corona-Patienten fast symptomfrei in Isolierzimmern landeten.

Vor allem verwunderten die Mediziner damals die Geschmacks- und Geruchsprobleme. "Wir hatten den Patienten Wunschkost offeriert. Und wir hatten ihnen dann auch ein gutes bayerisches Bier ins Zimmer gestellt. Aber es war so, dass sie sagten: Sie schmecken das gar nicht", berichtet Wendtner. "Es gab einen Patienten, der hatte ständig Vanille im Raum gerochen, obwohl es gar nicht nach Vanille roch."

Der Ausbruch bei Webasto wurde bestaunt - ein spektakuläres Ereignis. Die Virologin Ulrike Protzer, die eine infizierte Familie eines Webasto-Kollegen in Traunstein mitbetreute, berichtet, die Patienten hätten vor Neugierigen geschützt werden müssen und seien bis in die Klinik verfolgt worden.

Bei 16 Webasto-Kollegen und Angehörigen wurde das Virus nachgewiesen

Zwei Wochen blieb Webasto geschlossen. Mit diesem konsequenten "Lockdown" stoppte das Unternehmen erfolgreich die weitere Ausbreitung des Virus. Bei 16 Webasto-Kollegen und Angehörigen wurde das Virus nachgewiesen. Kaum jemand rechnete damals damit, bald selbst von den Auswirkungen des Virus betroffen zu sein.

Wendtners damalige Einschätzung zu den Patienten mit fast durchweg leichten Symptomen: sehr wahrscheinlich nicht schlimmer als die Influenza. Die Sicht habe sich geändert, als Patienten aus Ischgl kamen. "Mit der Ischgl-Welle haben wir gesehen, dass das hier doch ein anderes Infektionsgeschehen ist. Mit Webasto allein hätte niemand geglaubt, dass es eine Pandemie dieses Ausmaßes geben wird, dass es solche Einschränkungen geben muss, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren." Heute sagt Wendtner: "Jeder, der Covid-19 durchgemacht hat, ist ein warnendes Beispiel für Impfgegner."

Viele Patienten auch mit mildem Verlauf leiden lange - über Monate. Long Covid nennen manche das Phänomen. Das Virus greift neben der Lunge auch andere Organe und Nervenbahnen an. Manche erleiden Herzinfarkte, Schlaganfälle, Thrombosen oder Nierenversagen. Sehr viele sind lange nach der Genesung erschöpft und unkonzentriert. Und mancher Patient wird wohl nie wieder ganz gesund werden.

Unklar bleibt bis heute oft, warum die Krankheit manche schwer trifft und andere kaum Symptome haben. Covid-19 "ist ein bisschen wie ein Chamäleon", sagt Protzer, die Direktorin des Instituts für Virologie am Helmholtz Zentrum München und an der Technischen Universität München ist. "Man kann kaum vorhersagen, wie der Verlauf sein wird und ob es Spätfolgen gibt. Das ist individuell sehr unterschiedlich."

Tedros Adhanom Ghebreyesus, Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), machte zum Jahreswechsel Hoffnung auf ein Ende der Pandemie: "Es ist Licht am Ende des Tunnels." Der Start von Impfungen bringt Zuversicht. Aber wahrscheinlich ansteckendere Mutationen des Virus aus Großbritannien und Südafrika schüren neue Ängste. Die Furcht ist groß, dass daraus erneut eine Welle wird, dass die Mutation der Pandemie einen neuen Schub versetzt.

Die ersten Corona-Fälle waren am 31. Dezember 2019 aus Chinas Millionenmetropole Wuhan gemeldet worden. Eine chinesische Webasto-Kollegin war es auch, die das Virus nach Stockdorf brachte.

Das Ursprungsland China scheint inzwischen weitgehend Corona-frei - mit radikalen Maßnahmen. "Bei uns würde sich niemand trauen, eine Mehrmillionenstadt wegen 100 Fällen dichtzumachen. Und bei uns wird auch kein Mensch persönlich nachverfolgt", sagt die Virologin Protzer. Eine Ausbreitung in einer freien Gesellschaft sei deutlich schwerer zu verhindern. "Wenn man die Freiheit und Mobilität erhalten will, und das wollen wir ja, muss man mit dem Risiko leben."

Man habe gelernt: "Ich glaube, dass wir bei der nächsten Pandemie schneller und konsequenter sein werden", sagt Protzer. Wann diese komme, sei "Kaffeesatzleserei". "Früher ist man davon ausgegangen, dass es alle 100 Jahre eine Pandemie gibt." Mit der Globalisierung und dem Anwachsen der Weltbevölkerung könne es aber viel schneller gehen.
(Sabine Dobel, dpa)
 

Erste Corona-Patienten: Ungeliebtes Gemüse als Test und Ungewissheit 
Der Kollege, der keinen Rosenkohl mochte, aß bewusst das eigentlich ungeliebte Gemüse, ein anderer griff zur sonst verabscheuten Banane. Auf diese Selbsttests aufmerksam geworden, prüften die Ärzte der München Klinik Schwabing systematisch die überraschende Geschmacksverwirrung ihrer Patienten - die ersten, die sich in Deutschland vor einem Jahr nachweislich mit Corona infiziert hatten. Geschmacksstörungen sind, das wurde damals klar, Symptome.

Manches schien skurril. Doch zum Lachen sei keinem der Kollegen gewesen, berichtet einer der damals betroffenen Mitarbeiter des Stockdorfer Autozulieferers Webasto. "Es war kein Spaß." Eine chinesische Kollegin hatte das Virus mitgebracht. Neun Kollegen sowie sieben Angehörige infizierten sich. Webasto schloss seine Zentrale in Stockdorf bei München und stoppte so die Ausbreitung.

Belastet habe vor allem die Ungewissheit sowie die Sorge um Frau und Kinder. Diese mussten zuhause in Quarantäne. Er sei im Krankenhaus isoliert gewesen. Obwohl es ihm bis auf einen Tag mit Schüttelfrost und Fieber gut ging, sei ein Zeitpunkt für die Entlassung immer wieder unklar gewesen, berichtete der Familienvater der Deutschen Presse-Agentur. Zu den Kollegen ein paar Zimmer weiter habe es nur über soziale Medien und Telefon Kontakt gegeben.

"Ich hatte anfangs keine Angst. Die Angst kam erst, als ich hörte, dass es Patienten schlechter geht - und mit der Aussage der Ärzte, die sagten, sie wüssten nicht, wie lange es dauert. Zwischenzeitlich war auch die Rede davon, dass es einen zweiten Schub geben kann", sagt der Mann, der zu den ersten vier Patienten Deutschlands zählte

Während er überrascht feststellte, dass das Duschgel nicht mehr roch, berichtete einer seiner Kollegen von plötzlich eintretenden Vanillegeruch in seinem Zimmer. "Man hat dann immer wieder selbst getestet: mit Kaffee schwarz, mit Milch oder mit viel Zucker - um sicher zu gehen, dass wir wirklich nichts schmecken." So blieb der Genuss des Bieres, das die Ärzte schließlich den Patienten mit leichtem Verlauf genehmigten, unbefriedigend. "Ob ich Wasser trank, Cola oder Bier, war egal - ich habe nichts geschmeckt. Es war ein komisches Gefühl."

Wie Dutzende Kollegen sollte er vorsorglich zum Corona-Test als Kategorie-1-Kontakt eines Infizierten. "Ich habe mich morgens von meiner Familie verabschiedet mit den Worten: Das wird wahrscheinlich drei Stunden dauern." Als er abends zuhause anrief und sagte, dass er direkt in die Klinik müsse, war die Familie schockiert. Auch für ihn selbst sei das Test-Ergebnis schwer fassbar gewesen. "Ich weiß bis heute nicht genau, wie ich mich angesteckt habe."

Er und seine Kollegen wurden zum Forschungsziel. Wissenschaftler veröffentlichten Studien über das sogenannte Webasto-Cluster. Er habe gern teilgenommen, um zu helfen. Ob er sich neu infizieren kann, weiß er nicht. Immunisierende Antikörper sind in seinem Blut nicht mehr nachweisbar. Er halte sich wie alle anderen an die Regeln.  (dpa)

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