Leben in Bayern

Seit Januar wird an jedem Abend geprobt – Christian Stückl leitet seit 1990 die Passionsspiele. (Foto: Dominik Baur)

17.03.2022

Proben – und hoffen

Spielleiter Christian Stückl ist sich sicher: Die Passionsspiele finden in diesem Jahr statt – auch wenn er mit einigen Hindernissen zu kämpfen hat

Am 14. Mai sollen in Oberammergau mit zwei Jahren Verspätung die Passionsspiele Premiere feiern. Gut eine halbe Million Gäste aus aller Welt werden dann in das oberbayerische Dorf einfallen. Trotz Corona. Die Menschen aus Oberammergau hält jetzt nichts mehr auf. Auch nicht die Erkrankung der beiden Judas-Darsteller. Geprobt wird jedenfalls – wenn auch im kleineren Rahmen.

Christian Stückl steht in der Mitte des Kleinen Theaters von Oberammergau und schreit in den Saal: „Er wurde geschlagen wegen unserer Verbrechen. Kapierst du das nicht?“ Stückl spielt gerade dem Darsteller des Apostel Johannes eine Szene vor. „Da muss i do mehra spür’n“, sagt Stückl. „Da muss i spür’n, dass di des aufregt.“

Auf dem Probenplan stehen an diesem Tag die Szenen Kreuzweg und Kreuzigung. Die Darstellenden sitzen in einem Halbkreis um Stückl herum. Sie tragen Jeans und Kapuzenpullis, Holzfällerhemden und Daunenjacken; die rund 2000 Kostüme hängen noch drüben im Passionstheater. Die Probensituation im Kleinen Theater ist nicht ideal. „Wir müssten die Szenen draußen machen. Da ist so viel Bildliches drin“, sagt Stückl. Draußen, das heißt drüben auf der großen Freilichtbühne des Passionstheaters. „Aber ob wir das bis zur Premiere hinkriegen? Jetzt les ma’s noch mal durch. Der Robert fängt an.“

Ein römischer Soldat hatte jetzt schon den dritten Impfdurchbruch

Natürlich laufen die Proben nicht so wie sonst alle zehn Jahre, wenn wieder Passionsspiele in dem oberbayerischen Dorf anstehen. Immer wieder fehlen Darstellende, weil sie sich mit Corona infiziert haben. Ein römischer Soldat hatte schon den dritten Impfdurchbruch. Auch dass jede Gruppe doppelt besetzt ist, hilft nicht immer: Letztens waren beide Judas-Darsteller an Covid erkrankt. Wer trotzdem kommt, muss sich beim Betreten des Saales erst mal einem Schnelltest unterziehen. Stückl probt zudem in kleineren Gruppen als sonst üblich. Waren früher 70 bis 80 Leute bei einer Probe, sind es jetzt eher zehn bis 20.

Fast jeden Abend zwischen 19 und 22 Uhr finden seit 6. Januar die Proben statt. „Nun stehe ich in deinen Toren, Jerusalem“, liest eine der beiden Marien-Darstellerinnen. „Friede sei in deinen Mauern. Um meines Sohnes willen will ich dir Frieden wünschen.“ Stückl unterbricht. „Wenn du einer Stadt um deines Sohnes willen Frieden wünschst, was bedeutet das eigentlich?“ Maria zögert. Stückl antwortet selbst: „Dann sagst du ja eigentlich: Ich hoffe, dass hier alles friedlich bleibt. Du versuchst, dir das Positive einzureden. Noch kannst du dir überhaupt nicht vorstellen, dass dein Sohn stirbt.“

Der Versuch, sich das Positive einzureden, das Sich-nicht-vorstellen-Können, dass das hier am Ende wieder nichts werden könnte – das kennzeichnet auch die gegenwärtige Stimmung hier. Aber natürlich kann niemand eine Garantie dafür geben, dass ihnen nicht wieder dasselbe blüht wie vor zwei Jahren. 2020 waren die Passionsspiele das erste bayerische Großereignis, das der Pandemie zum Opfer fiel. In weiser Voraussicht hat man es damals nicht um ein, sondern gleich um zwei Jahre verschoben. Aber reicht das? Was, wenn die nächste Virusvariante den Veranstaltenden wieder einen Strich durch die Rechnung macht?

Über fast vier Jahrhunderte prägen die Spiele nun schon das Dorf, sind der Taktgeber des Lebens hier. Sie sind identitätsstiftend und Motor der Wirtschaft: „Unsere ganze Dorfstruktur ist so, dass wir alle zehn Jahre das große Geschäft machen“, erzählt Stückl, „und dann ist wieder zehn Jahre Pause.“ So hängt beispielsweise auch der Fortbestand des Schwimmbads letztlich vom Erfolg der Spiele ab. Darüber hinaus sind die Passionsspiele, so beschreibt es Stückl, Oberammergaus „größter sozialer Event“. Die, die dabei sind, und das ist das halbe Dorf, betonen immer wieder auch das Generationenübergreifende des Spektakels, bei dem 2500 Menschen auf der Bühne stehen. Die jüngsten sind noch Kleinkinder, die älteste Mitwirkende ist schon 98.

„Das ist schon das Besondere an den Passionsspielen“, erzählt der 41-jährige Jesus-Darsteller Frederik Mayet. „Man ist auf den Proben zusammen, man trinkt danach ein Bier. So kommt es, dass man in Oberammergau ganz oft Freunde hat, die 15 Jahre jünger oder älter sind als man selbst, und das ist hier ganz normal.“

Es war 1633, mitten im Dreißigjährigen Krieg, und die Pest wütete gerade in der Gegend, da legte man das Gelübde ab, alle zehn Jahre die Passionsgeschichte zur Aufführung zu bringen, wenn Gott das Dorf von der Pest befreie. Seither, so die Überlieferung, habe es keinen einzigen Pesttoten mehr in Oberammergau gegeben. Ohne Seuche gäbe es die Spiele nicht. Aber wird es sie jetzt mit der Seuche geben? „Ja, auf jeden Fall“, sagt Stückl. „Ich weiß nicht, ob sie jetzt genauso stattfinden, wie sie 2020 geplant waren, oder ob wir bloß 75 Prozent reinlassen dürfen, aber stattfinden werden die Spiele.“

Nur was mit den rund 120 000 Karten passiert, die man auf den amerikanischen Markt geworfen hat, ist noch nicht ganz absehbar. Amerikaner lieben das Jesus-Spektakel am Fuße des Kofel, gut ein Viertel der Zuschauer*innen kommt traditionell aus den USA. Doch den Rückmeldungen zufolge scheinen aktuell viele die Reise nach Europa zu scheuen – auch wegen des Krieges. Doch auch damit könnte man umgehen. Zum einen genügen schon 65 Prozent Auslastung für den Break-even, zum anderen kamen auch im Jahr 2010 100 000 Karten aus den USA zurück, damals infolge der Finanzkrise. Für sie fanden sich dann Käufer aus Deutschland.

Nicht, dass das alles leicht wäre. Die Jungen zum Beispiel – die fehlen. Rund 40 Leute aus der Besetzung von 2020 seien inzwischen abgesprungen, erzählt Stückl. Die Hauptdarstellenden sind zwar noch an Bord, aber in der zweiten, dritten Reihe lichtet es sich. Zwei der drei Brüder Jesu, vier Apostel, fünf römische Soldaten, fünf Tempelwachen und, und, und … „Gerade die Studenten, die jetzt im dritten, vierten Jahr studieren, haben gesagt, sie können jetzt nicht noch mal ein Freisemester nehmen.“ Drei Monate vor der Premiere fehlten noch immer Mitwirkende.

Während sich die Darstellenden an diesem Abend am Eingang des Kleinen Theaters noch Stäbchen in die Nase schieben, läuft Stückl im Saal auf und ab, das Mobiltelefon am Ohr. Einen jungen Oberammergauer hat er angerufen, er selbst kennt ihn nur vom Sehen. Trotzdem hält er sich nicht mit langer Vorrede auf: „Wie hast denn Zeit vor der Passion? I tat di gern zum Apostel machen.“ Das Angebot kommt plötzlich, der Angerufene bittet sich Bedenkzeit aus. Bei den Älteren dagegen gibt es keine Motivationsprobleme. Infektionsrisiko hin oder her, auch wenn sie mit Hunderten gleichzeitig auf der Bühne stehen müssen – sie wollen dabei sein. „Meine Mutter wird achtzig“, erzählt Stückl, „und sie will unbedingt mitspielen. Mein Vater auch.“

Corona? Stückl: „Ich kann’s nicht mehr hören! Jetzt reden wir über Jesus“

Es ist das geltende Spielrecht, das die Besetzung mitunter so schwierig macht und das Stückl schon lange ein Dorn im Auge ist. Die Pandemie verstärkt dessen Auswirkungen jetzt nur noch. Mitmachen darf, wer in Oberammergau geboren ist oder seit mindestens 20 Jahren hier lebt. „20 Jahre, das ist zu viel“, sagt Stückl. Das Spielrecht sei im Übrigen keine jahrhundertealte Tradition, wie viele dächten. Eingeführt habe man es erst für die Passionsspiele 1960 – damit man die Flüchtlinge nicht habe mitspielen lassen müssen, die sich nach dem Krieg hier niedergelassen hatten.

Die Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele, das ist auch eine Geschichte von der Weltoffenheit und der Engstirnigkeit eines kleinen bayerischen Dorfes. Dass dabei Ersteres immer mehr an Gewicht gewinnt, hat sehr viel mit dem Mann zu tun, der da gerade bei der Leseprobe im Kleinen Theater seine Darstellenden unterbricht. Ein paar Zigarettenzüge lang sagt Stückl nichts, denkt nach. Die langen grauen Locken fallen ihm ins Gesicht, der struppige Bart unterstreicht das leicht Urviehhafte des Regisseurs. Bart tragen hier freilich viele. Alle Mitspieler mit Ausnahme der Römer durften sich seit Aschermittwoch vergangenen Jahres nicht mehr rasieren und auch nicht die Haare schneiden lassen.

Stückl, 60 Jahre, tief hängende Hose, darüber schlabbert das Hemd, alles in Schwarz, gehört zu den angesagtesten Theatermachern Deutschlands. Er hat an den Münchner Kammerspielen gearbeitet, den Jedermann in Salzburg inszeniert, seit 2002 ist er Intendant des Münchner Volkstheaters, 2006 hat er die Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft inszeniert. Aber er ist auch durch und durch Oberammergauer, von klein auf bei den Passionsspielen dabei. Mit 16 steht für ihn fest: Eines Tages will er Spielleiter werden. Mit 24 ist er es. Anfangs stellen sie ihm einen Aufpasser an die Seite. Doch spätestens bei seinen zweiten Spielen, im Jahr 2000, lässt er sich nicht mehr vorschreiben, wie er zu inszenieren hat. Stückl mit seinen – für Oberammergauer Verhältnisse – modernen Ideen ist nicht überall beliebt im Dorf. Aber natürlich ist er ein Erfolgsgarant, und natürlich wissen sie, dass sie so einen unter den gut 5000 Einwohner*innen nicht so schnell wieder finden. „Ich werde mich auch vor der Kirche nicht mehr rechtfertigen für das, was ich mache“, sagt Stückl. „Das Passionsspiel war früher Propagandamittel der Kirche, das ist es nicht mehr.“

Katholisch sein ist ja nicht leicht in diesen Tagen. Das Erzbistum München und Freising, in dessen Gebiet Oberammergau liegt, steht angesichts des Missbrauchsskandals vor einem Scherbenhaufen, auch im Dorf fallen die Menschen vom Glauben ab, der vielleicht gar kein rechter war. Die 42. Passionsspiele seien die ersten, in denen unter den Hauptdarstellenden kein einziger Kirchgänger mehr sei, sagt Stückl. Aber in den Passionsspielen möchte er den Niedergang der Kirche nicht thematisieren.

Und Corona? Nein, auch die Seuche will Stückl auf keinen Fall in seiner Inszenierung abhandeln. „Wir haben jetzt in zwei Jahren über nichts anderes geredet, jetzt reden wir über Jesus, nicht über Corona. Ich kann’s nicht mehr hören.“
(Dominik Baur)

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