Leben in Bayern

Kulturbegleiterin Evelin Böttcher führt den an Demenz erkrankten Franz Eich und seine Schwester Therese durch den Kulturspeicher. (Foto: Pat Christ)

29.03.2019

Raus aus der Isolation

Zwölf Kulturbegleiter unterstützen in Würzburg Demenzkranke und ihre Angehörigen – Evelin Böttcher ist einer von ihnen

Oft führt die Demenz eines Menschen zum Rückzug. Das betrifft sowohl den Erkrankten als auch seine Betreuer. Denn zu groß ist meist die Angst davor, anzuecken, Aufsehen zu erregen oder sich Ärger einzuhandeln. Dabei kann Kunst ein vielversprechender Weg für mehr Teilhabe sein. Dafür, dass Demenzkranke in Würzburg am kulturellen Leben teilhaben können, sorgen zwölf ehrenamtliche Helfer.

Sie helfen Menschen mit Demenz. Vor allem aber unterstützen sie deren Angehörige. Zwölf ehrenamtliche Kulturbegleiter ermöglichen in und um Würzburg den gemeinsamen Besuch von Theatervorstellungen, Museen, Lesungen und Konzerten. Seit 2016 gibt es das Angebot „Kulturbegleiter“ des Würzburger Vereins Hilfe für alte Menschen im Alltag (Halma). Evelin Böttcher gehört dem Team an. Vor zwei Jahren ließ sich die pensionierte Lehrerin zur Kulturbegleiterin ausbilden.
An diesem Tag hat Böttcher einen Termin im Würzburger Kulturspeicher. Therese Eich bat sie, mitzukommen. Die 85-Jährige kümmert sich um ihren an Demenz erkrankten Bruder Franz. Die Eichs waren schon immer kulturbeflissen. Was man bei Franz Eich immer noch spürt. Böttcher führt das Geschwisterpaar durch die Emy-Röder-Ausstellung. Das Trio bleibt vor einem Bildnis von Erich Heckel stehen. Die Würzburger Künstlerin fertigte die Bronzeplastik in den Jahren 1951 und 1952 an.

„Kultur ist für die Seele genauso notwendig wie Essen für den Körper“

1951. Das Jahr lässt das Geschwisterpaar in die Vergangenheit abschweifen. Franz Eich war damals ein junger Mann von 22 Jahren. Wie viel seitdem passiert ist! Den Beruf des Maschinenschlossers hatte er ursprünglich erlernt. Doch dann machte er etwas völlig anderes: „Ich war lange Fahrer der Würzburger Bischöfe“, erzählt der Senior. Sowohl Bischof Josef Stangl als auch seinen Nachfolger Paul-Werner Scheele chauffierte er quer durch die Diözese. Einmal musste Eich nachts um ein Uhr von einer Konferenz in München nach Hause fahren: „Wir kamen bis Feucht bei Nürnberg, dann hatten wir kein Öl mehr“, erinnert er sich.

Geht Franz Eich in seiner Vergangenheit spazieren, gewinnt er jene Sicherheit zurück, die ihm heute aufgrund seiner Demenz im Alltag oft abhanden kommt. Böttcher erlebt es nicht zum ersten Mal, in welchem Maße den Senior Kunst stimuliert. Im vergangenen Jahr im Sommer war sie mit den Geschwistern in der Würzburger Marienkapelle. „Da waren wir mindestens schon zwei Jahre nicht mehr“, erzählt Therese Eich. Umgeben von sakraler Kunst, schwelgte ihr Bruder auch damals in Erinnerungen.

Kulturbegleiter wie Böttcher müssen sich nicht nur in der besonderen Welt von Menschen mit Demenz auskennen. In der Schulung, die 40 Einheiten umfasst, lernen sie auch eine Menge Praktisches. So hilft es, zu wissen, was die Menschen prägte, die heute um die 80 sind. Welche Künstler waren modern, als sie jung waren? Welche kulturellen Ereignisse wichtig? „Nicht zuletzt darum, wie man sich auf einen Museumsbesuch vorbereitet“, erläutert Sabine Seipp, Leiterin der Halma-Fachstelle für pflegende Angehörige. Unter anderem wichtige Fragen: Wie kommt man am besten zu der Kultureinrichtung? Mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder einem Taxi? Verfügt das Museum oder das Theater über behindertengerechte Toiletten?

Ein Teil der Kulturbegleiter hat sich auf die Unterstützung von Senioren im Tanzcafé von Halma spezialisiert. Viermal jährlich kommen demenziell veränderte Männer und Frauen, die trotz ihrer Krankheit noch immer gern tanzen, in Würzburg zusammen. Bereits 2002 wurde dieses Angebot etabliert. Viele Helferinnen und Helfer sorgen dafür, dass sich die Senioren während der Veranstaltung wohlfühlen.

Aber auch mit der besten Vorbereitung wird der ehrenamtliche Job des Kulturbegleiters niemals zur Routine. Kulturbegleiter müssen mit allem rechnen. Die Angehörigen trauen sich ja gerade deshalb nicht mehr, gemeinsam mit demenziell Erkrankten ein Konzert, eine Lesung oder eine Theatervorstellung zu besuchen, weil dabei immer etwas Unerwartetes passieren kann. „Die erste halbe Stunde geht oft noch gut“, sagt Seipp. Doch dann kann es gut sein, dass ein Mensch mit Demenz in einem Konzert aufsteht, mitsingt oder auch mitdirigiert. Solche Situationen fangen Kulturbegleiter ab. Zum Beispiel dadurch, dass sie den Senior liebevoll motivieren, kurz mit nach draußen zu gehen.

Ziel des Projekts ist es, sowohl Menschen mit Demenz als auch diejenigen, die sich um sie kümmern, kulturell zu inkludieren. In vielen Fällen führt die Demenz eines Menschen zum Rückzug. Das betrifft sowohl den Erkrankten als auch seine Betreuer. Groß ist die Scham davor, anzuecken, Aufsehen zu erregen oder sich Ärger einzuhandeln, weil sich der demente Mensch nicht den Konventionen entsprechend verhält. Die Isolation zu durchbrechen gilt als eine der wichtigsten Aufgaben in der Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz und deren Bezugspersonen. Kunst wird als vielversprechender Weg für mehr Teilhabe angesehen. Wobei Sabine Seipp die Begriffe „Teilhabe“ und „Inklusion“ nicht besonders mag. „Uns geht es um Normalität“, unterstreicht sie. Also um das Bewusstsein, dass ausnahmslos alle das Recht haben, mit dabei zu sein und mit anderen zusammen „kulturelle Feste“ zu feiern. Jeder Mensch, ist Seipp überzeugt, braucht Kultur: „Das ist für die Seele genauso notwendig wie Essen für den Körper.“

Die Fachstelle Halma wirbt deshalb dafür, dass sich in Würzburg mehr kulturelle Institutionen für Menschen mit Demenz öffnen. Mit Erfolg. Inzwischen bringt Halma regelmäßig ein Semesterprogramm mit entsprechenden Veranstaltungstipps heraus. So gibt es immer wieder Erinnerungstouren durch das Museum im Kulturspeicher. Und die Würzburger Musikhochschule bietet regelmäßig Konzerte an, wo Menschen mit Demenz ausdrücklich willkommen sind.

Eine Frau ruft ihren Mann beim Vornamen – das hatte sie Monate nicht gemacht

Ihre ehrenamtliche Arbeit als Kulturbegleiterin macht ihr großen Spaß, sagt Evelin Böttcher. Wunderbare Begegnungen habe ihr der Freiwilligendienst schon beschert. Als besonders berührend hat sie eine Postkutschenfahrt von Bad Kissingen nach Bad Brückenau in Erinnerung. Dabei begleitete sie ein Ehepaar. Die Frau war an Demenz erkrankt und hatte Wortfindungsstörungen. „Nach der Kutschfahrt gingen wir zusammen zum Bahnhof“, erzählt Böttcher. Plötzlich rief die Frau ihren Mann beim Vornamen: „Das war erstaunlich, denn sie hatte das seit vielen Monaten nicht mehr getan.“

Ein anderer Herr begann durch Böttcher nach sehr langer Pause wieder kreativ tätig zu werden. Früher hatte er leidenschaftlich gern gemalt. Daran konnte er sich allerdings nicht mehr erinnern. Böttcher brachte ihm Malutensilien vorbei. „Eines Tages fing er tatsächlich wieder an zu malen“, erzählt sie. Er gab ihr die Werke zur Aufbewahrung: „Passen Sie gut darauf auf!“

Auch bei Franz Eich erwacht im Kulturspeicher die frühere Begeisterung für Kunst. Der betagte Senior hat einst in Kunst geschwelgt. „Mein Bruder war zur Zeit des Vatikanischen Konzils, also von 1962 bis 1965, in jedem dieser vier Jahre für jeweils vier Monate in Rom“, erzählt seine Schwester.
Unermüdlich geht Sabine Seipp in die Öffentlichkeit, um dafür zu sensibilisieren, dass Menschen mit Demenz nicht ausgeschlossen werden dürfen. Daneben versucht sie, Finanzmittel einzuwerben, um das in Unterfranken einmalige Projekt weiterhin am Leben zu erhalten und auszubauen. Es braucht Geld, um noch mehr Ehrenamtliche zu schulen, eine Projektstelle zu unterhalten und um Semesterprogramme, Poster und Flyer drucken zu können. Fördergeldgeber zu finden, ist jedoch nicht einfach.

Übrigens bekommen nicht nur in Würzburg immer mehr Menschen mit Demenz die Chance, an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen. Wobei das Engagement außerhalb Bayerns deutlich größer ist als innerhalb des Freistaats. Als „Papst“, das Thema „Kulturbegleitung“ betreffend, gilt Jochen Schmauck-Langer, Gründer und Geschäftsführer von dementia+art. Der Kulturgeragoge aus Köln bietet im Auftrag von Bundes- und Landesministerien, kommunalen Netzwerken, Wohlfahrtsverbänden und Bildungseinrichtungen in Deutschland und Österreich Fortbildungen für Kulturbegleiter an. Auf seine Initiative hin engagiert sich inzwischen sogar das WDR-Sinfonieorchester für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Demenz. Bei den „WDR-Happy-Hour-Konzerten“ sind Menschen mit demenzieller Veränderung willkommen. (Pat Christ)

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