Ein typisches städtisches Wohngebiet. Fußgänger*innen und Radfahrer*innen teilen sich den Gehsteig, der rechts von hohen Hecken und Mauern und links von abgestellten Autos begrenzt ist. Schülerin Julia ist mit ihrem Rad auf dem Gehsteig unterwegs, man ist so nah an ihr dran, als säße man auf ihrem Fahrradhelm. Ein kleiner Lastwagen fährt vorbei. Julia muss eine Straße queren, um ihren Weg fortsetzen zu können. Auf einmal biegt der Lastwagen vor ihr nach rechts in die Straße ab – und hätte dabei fast Julia, die eigentlich Vorfahrt hatte, erwischt. Der Fahrer hatte sie nicht gesehen, sie befand sich in seinem toten Winkel.
Zum Glück war Julia nie wirklich in Gefahr. Die Szene ist Teil einer Filmsequenz, die entstand, um mit Virtual-Reality-Brillen vor allem junge Menschen besser auf die Gefahren des Straßenverkehrs aufmerksam zu machen. Aber dazu später mehr. Auf jeden Fall ist diese Sensibilisierung dringend notwendig. Denn die Kompetenz von Kindern, sicher durch den Straßenverkehr zu kommen, nimmt stetig ab.
Immer mehr Grundschulkinder können nur noch schlecht oder gar nicht Fahrrad fahren, klagen Fachleute. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist mangelndes Körpergefühl, warnte jetzt erst Kirsten Lühmann, die Präsidentin der Deutschen Verkehrswacht, einem Verein, der sich seit vielen Jahren für die Sicherheit aller Menschen im Verkehr einsetzt. Grundlagen wie das Klettern, Balancieren oder Slalomlaufen beherrschen immer weniger Kinder – mit Konsequenzen auch für das sichere Fahrradfahren. Es mangelt auch an der Übung.
Vor allem die Eltern sind in der Pflicht
Lühmann nimmt vor allem die Eltern in die Pflicht. Rund ein Drittel der Kinder habe einer Studie zufolge keine oder nur wenig Unterstützung der Eltern bei den ersten Fahrversuchen mit dem Fahrrad. Manche Kinder haben laut Lühmann nicht mal mehr ein eigenes Fahrrad. Die Verkehrswacht hat deswegen zu ihrem 100-jährigen Bestehen die Aktion „100 Jahre – 1000 Räder“ gestartet. Mit Spendengeldern sollen zumindest die Jugendverkehrsschulen, an denen Grundschulkinder das Radfahren üben können, besser ausgestattet werden.
In Bayern wurde bislang die Radfahrkompetenz erst mit einer Prüfung durch die Verkehrserzieher*innen der Polizei in der vierten Klasse erfasst. Auf den ersten Blick gibt die Erfolgsquote von 90 Prozent wenig Anlass zur Sorge. Doch erstens kann man auch nicht alle, die die Prüfung bestanden haben, sofort bedenkenlos alleine fahren lassen. Und zweitens sind die guten Zahlen landauf, landab rückläufig – am stärksten in den größeren Städten.
In München gibt es eine eigene Verkehrspolizeiinspektion, die sich mit Verkehrserziehung und -aufklärung beschäftigt. Die Inspektion kümmert sich unter anderem um die Abnahme der Radfahrprüfungen. Dabei lassen sich schon Beobachtungen über den aktuellen Stand der Kompetenzen machen: Rund 1,5 Prozent aller Kinder, die die vierte Klasse einer der rund 250 Grundschulen in München besuchen, können nicht oder nur sehr schlecht radeln, teilt die Dienststellenleiterin Claudia Pfeiffer mit. Bei rund 10 000 Viertklässler*innen sind das immerhin 150 Kinder allein in der Landeshauptstadt. Alarmierend ist der Rückgang bei den bestandenen Prüfungen: Vor Corona betrug die Erfolgsquote laut Pfeiffer noch 94 Prozent, aktuell sind es nur noch 88 Prozent – 6 Prozent weniger innerhalb weniger Jahre.
Manfred Raubold, Geschäftsführer der Landesverkehrswacht, vermutet, dass manchen Eltern je nach Wohngegend in einer Metropole wie München auch die Übungsräume fehlen könnten. „Fahren üben in der Großstadt ist ja auch nicht ganz ungefährlich.“ Allerdings sei es ja gerade deswegen wichtig, früh den Umgang mit den Gefahren zu lernen. „Das hilft einem dann ein Leben lang.“
Die Hoffnung liegt auf dem neuen Radlführerschein
Um dem negativen Trend im ganzen Freistaat entgegenzuwirken, hat sich nicht nur die Landesverkehrswacht für eine Reform der Verkehrserziehung eingesetzt. Die hat die Staatsregierung inzwischen umgesetzt. Seit diesem Schuljahr geht es in der ersten Klasse los. „Wir hoffen dass es dadurch einen Schub gibt, sagt Ursula Fendl, die Vizepräsidentin der Landesverkehrswacht.
Dabei werden auch die Eltern stärker ins Boot geholt. Sie müssen laut Kultusministerium mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie zu Beginn der Grundschulzeit mit ihrem Kind den Schulweg ausreichend geübt haben. Im Unterricht selbst sollen die Kinder in der ersten Klasse etwas über die verschiedenen Rollen der Verkehrsteilnehmer*innen lernen. In der zweiten und dritten Klasse sind sogenannte Schonraumübungen vorgesehen. Dabei sollen die Kinder vor allem Gleichgewicht, Koordination und ihr Reaktionsvermögen testen. Auch die Dokumentation dieser praktischen Übungen fließt in den neuen Radlführerschein ein.
In der vierten Klasse steht dann weiter die Prüfung in der Jugendverkehrsschule an, nach der der Radlführerschein ausgehändigt wird. Abgeschlossen wird die Verkehrserziehung künftig durch eine Übungseinheit mit dem Fahrrad im richtigen Straßenverkehr.
Vielleicht werden die Schulen künftig zusätzlich auf eine andere Methode zur Verbesserung der Verkehrssicherheit zurückgreifen. Am Mittwochnachmittag stellte die Münchner Inklusionsinitiative vr4kids in der BMW-Welt ihr Projekt mit dem Titel „vr4kids-Verkehrssicherheit“ vor. Mithilfe von Virtual-Reality-Brillen kann man Situationen im Straßenverkehr erleben und trainieren – ohne sich tatsächlich in Gefahr zu bringen. Etwa aus der Perspektive der anfangs erwähnten Radfahrerin Julia. Man kann die Situation auch vom Steuer des Lastwagens aus erleben – und merkt, dass die Radfahrerin tatsächlich nicht im Außenspiegel zu sehen ist. Ein Augenöffner gerade für junge Menschen, die noch keinen Führerschein haben und denen deswegen die entsprechende Erfahrung fehlt.
Entwickelt wurde das Projekt ursprünglich mit und für Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung. „Aber Nutznießer sind im Grunde alle“, betonte der Initiator Christoph Ostler bei der Präsentation. Tatsächlich sind etliche Anwendungsbereiche denkbar: an Schulen, bei Veranstaltungen oder auf Messen. In der Simulation können unterschiedliche Wetterarten und Tageszeiten getestet werden, eingeblendete Informationen geben Einblicke in Unfallstatistiken.
Als Partner hat Ostler unter anderem den Gehörlosenverband München und Umland, die Stadt München, die BMW-Welt, die Allianz-Versicherung, die AOK-Krankenversicherung und auch die Verkehrswacht gewonnen. Sie alle wollen das Projekt der Allgemeinheit zugänglich machen, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen.
Auch ein Freizeitpark will die Technologie
Es habe auch schon mehrere weitere Anfragen gegeben, erklärt Ostler. Ein Einkaufszentrum hat beispielsweise sein Interesse bekundet und ein Freizeitpark. Aus dem Kultusministerium hat Ostler noch nichts gehört. Aber sein VR-Projekt hat ja gerade erst den Startschuss erlebt. Eine gute Ergänzung zur Verkehrserziehung wäre es sicher. Das findet auch der Landesverkehrswachts-Geschäftsführer Raubold: „In der virtuellen Realität darf ich auch mal Fehler machen. In der Realität im Straßenverkehr nicht.“ (Thorsten Stark)
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