Leben in Bayern

Reserviert für Rollstuhlfahrer. (Foto: dpa)

05.02.2016

Studium mit Handycap

Blind, taub oder im Rollstuhl: Die Hochschulen im Freistaat müssen sicherstellen, dass Studierende mit Behinderungen keine Nachteile haben – dafür aber ist noch einiges zu tun

Die bayerischen Unis haben in den vergangenen Jahren baulich, technisch und auch bei der Beratung aufgerüstet, damit junge Menschen mit Behinderung möglichst barrierefrei studieren können. Beispiel LMU München: Die Staatszeitung hat sich dort umgehört, was funktioniert oder wo Handlungsbedarf besteht. Fazit: Einige der größten Barrieren befinden sich noch in den Köpfen. Obwohl Clara Klug blind ist und sich bei jeder Vorlesung ihren Sitzplatz ertasten muss, studiert sie im vierten Semester Computerlinguistik. Um sich wie ihre Kommilitonen auf Prüfungen vorbereiten zu können, besitzt sie eine Braillezeile – einen Adapter, der Texte vorliest oder in Blindenschrift darstellt. Das Problem: Die Umsetzung von Grafiken oder mathematischen Zeichen ist schwierig. „Generell erfordert das Studium auf jeden Fall viel Kraft und Ausdauer“, meint auch die fast gehörlose Lara Schmitt. Sie macht gerade ihren Master in Prävention, Inklusion und Rehabilitation bei Hörschädigung. Um in den Vorlesungen gut mitzukommen, sei sehr viel Konzentration erforderlich, weshalb sie wesentlich mehr Ruhepausen als ihre Kommilitonen benötige – vor allem in Prüfungszeiten.

Nur auf Umwegen: Mit dem Rollstuhl in den Hörsaal

Besonders nervig: „Man muss immer wieder, jedes Semester, in jeder Vorlesung und in jedem Seminar aufs Neue erklären, was man hat, wieso man es hat und welche Hilfe man braucht.“ Besonders schwierig war die Situation für Samuel Flach, der erst seit einem Unfall nach dem Abitur im Rollstuhl sitzt. „Alltägliche und normale Kleinigkeiten stellen auf einmal eine Herausforderung dar“, verdeutlicht er. Doch obwohl er jeden Tag Assistenz beim Studieren braucht, steht für ihn fest: „Ich will mich auch in Zukunft voll und ganz dem Studium widmen.“

Grundsätzlich scheinen die meisten behinderten Studierenden mit der Barrierefreiheit an der LMU zufrieden. Für die querschnittgelähmte Jura-Studentin Anna Schaffelhuber zum Beispiel sind nur die Wege zwischen den Seminarräumen für Rollstuhlfahrer zu weit: „Bis ich den Weg über viele Umwege zum Vorlesungssaal gefunden habe – das kann dauern“, erklärt die Monoskibobfahrerin und fünffache Goldmedaillengewinnerin der Winter-Paralympics in Sotschi. „1998 waren die Hörsäle noch nicht so barrierefrei wie heute“, betont der ehemalige Sozialpädagogikstudent und Elektrorollstuhlhockeyrekordmeister Roland Utz.

Wie sich die Situation für Sehbehinderte dank technischer Hilfsmittel in den letzten 15 Jahren verändert hat, hat die blinde Verena Bentele in ihrer Magisterarbeit zum Thema Das Hörbuch als literarische Gattung erörtert. Mittlerweile ist die ehemalige LMU-Studentin Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Bei der Literaturrecherche in der Bibliothek halfen ihr selbst oft Studienassistentin oder Zivildienstleistender.

Seit 1976 ist die LMU verpflichtet, sich um die Belange von Behinderten zu kümmern. Und seitdem hat sich tatsächlich viel getan. Jetzt stehen hörgeschädigten Studierenden im Audimax neben akustisch wirksameren Stühlen und Wänden eine induktive Höranlage sowie ein Infrarotsender zur Verfügung, um die Vorlesungen drahtlos auf dem Hörgerät zu empfangen. 29 weitere Hörsäle sind mit Systemen ausgestattet, die den Vorlesungston auf die Hörgeräte der Studierenden übertragen. Um auch in kleineren Lehrveranstaltungen und Diskussionsrunden eine barrierefreie Teilhabe zu ermöglichen, stehen elf Sets einer mobilen Funkhöranlage für hörbehinderte Studierende zur Ausleihe bereit. Darüber hinaus werden elektronische Autofokus-Video-Lupen, Lesegeräte, Braillezeilen und Laptops mit Sehbehindertensoftware angeboten.

Dennoch gibt es noch einiges zu tun: „Aktuell machen wir uns Gedanken über ein Blindenleitsystem und einen Ausbau der Hörsaalbeschilderung in Brailleschrift“, erklärt Studienberater Michael Heinlein. Außerdem soll der Bestand der ausleihbaren Höranlagen erweitert und das Beratungsangebot durch mehr Informationsveranstaltungen noch besser bekannt gemacht werden.

Die LMU-Neubauten gelten alle nach den DIN-Vorschriften für öffentlich zugängliche Gebäude als barrierefrei. Und im März letzten Jahres hat die Uni über das Programm „Bayern Barrierefrei 2023“ zusätzlich rund 740 000 Euro erhalten, um in den nächsten Jahren weitere Baumaßnahmen durchzuführen. Dazu gehören zum einen neue barrierefreie Parkplätze, Türen, Toiletten oder Aufzüge. Zum anderen wird das Geld eingesetzt, um Rampen zu bauen, Schachtgitter auszutauschen und Schwellen zu beseitigen.

Bei manchen Dozenten fehlt es noch an Sensibilität

Als Ansprechpartner stehen die Hilfskräfte der Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung zur Verfügung. Eine davon ist Lara Schmitt. Sie unterstützt behinderte Studierende bei Prüfungen, Mitschriften, Ausleihvorgängen oder beim Einüben der Wege zu den Hörsälen. „Eines unserer größten Aufgabengebiete ist aber die barrierefreie Aufbereitung von Studienmaterialien“, erklärt sie. Damit das Sprachausgabeprogramm keine Probleme mit dem Dokument bekommt, muss dazu jede einzelne Seite eines Buches mit einem speziellen Programm bearbeitet werden. „Das ist ein sehr aufwendiger und langwieriger Prozess.“

Und es gibt nach wie vor großen Beratungs- und Informationsbedarf bei der barrierefreien Gestaltung von Lehrveranstaltungen und Studienmaterialien. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Lehrende nach wie vor nicht ausreichend informiert sind über Studierende mit Behinderung und deren Probleme“, betont Ulrich Heimlich, Professor am Lehrstuhl für Lernbehindertenpädagogik. In der Behindertenberatungsstelle werden daher speziell für Lehrende Flyer und der Leitfaden „Behinderung verhindern“ angeboten. Darin befindet sich auch eine DVD mit Video-Clips, in denen Studierende mit Behinderung auf die Probleme in ihrem Studienalltag hinweisen. Zudem wurde ein „Münchener Inklusionstraining für Lehrende“ entwickelt, das bisher zwei Mal als vierstündige Veranstaltung durchgeführt worden ist. „Letztlich geht es aber natürlich ganz besonders um den Abbau der Barrieren in den Köpfen, die nach wie vor Menschen mit Behinderung vom Studium abhalten oder zum Studienabbruch zwingen, weil nicht auf ihre besonderen Bedürfnisse eingegangen wird“, sagt Heimlich.

Wenn behinderte Studieninteressierte oder Studierende Rat brauchen, können sie sich auch an den ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der LMU wenden. Dieser hilft zum Beispiel bei Fragen zum Zulassungsrecht, Nachteilsausgleich und bei Anträgen zur Finanzierung von Studienhelfern oder zusätzlichen Hilfsgeräten. Dem scheidenden Behindertenbeauftragten Christoph Piesbergen von der Fakultät für Psychologie und Pädagogik ist es zu verdanken, dass es endlich eine einheitliche Regelung beim Nachteilsausgleich in Prüfungen gibt: Studierende müssen jetzt nicht mehr bei jeder Prüfung ihre Diagnosen preisgeben, um mehr Zeit zu bekommen, Schreibhilfen nutzen zu dürfen oder schriftliche in mündliche Prüfungen umwandeln zu können. Weniger erfreulich sei hingegen das extrem gestiegene Arbeitsaufkommen für den Behindertenbeauftragten – ohne Zuweisung eines eigenen Etats. „Hier hätte ich gern mehr erreicht“, sagt Piesbergen nachdenklich. Darum muss sich jetzt sein frisch gewählter Nachfolger Ulrich Heimlich kümmern.

Für eine bessere Inklusion und Integration braucht es aber vor allem auch Sensibilität für das Thema. Der gehörlosen Lara Schmitt würde es zum Beispiel sehr helfen, wenn Dozenten mehr digitales Lernmaterial zur Verfügung stellen würden und sie sie nicht immer wieder daran erinnern müsste, die Höranlage zu verwenden. „Auch das Bewusstsein für die Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung ist ausbaufähig“, betont sie. Bei manchen Kommilitonen mangele es an Offenheit und Unterstützung. Die blinde Clara Klug zum Beispiel würde sich wünschen, dass ihr andere Studierende vor der Vorlesung helfen würden, einen freien Platz zu finden. Viele aber reagierten schlicht mit Hilflosigkeit. Klug: „Da wäre es gut zu fragen: ‚Hey, brauchst du Hilfe?’ –  und damit wäre die Sache erledigt.“ (David Lohmann) Foto (dpa): Olympiagewinnerin Anna Schaffelhuber studiert an der LMU München Jura.

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