Leben in Bayern

Hartmut Gieringer (68) hat früher bei BMW gearbeitet – im Dorfladen ist er jetzt wieder voll im Einsatz. (Foto: Dominik Baur)

05.03.2021

Tante Emma lebt

In Bayern geht der Trend wieder zum Dorfladen – oft sind es die Bürger*innen, die hier initiativ werden

Überschaubare Auswahl, sozialer Treffpunkt und vor allem nah: In der kleinen Allgäuer Gemeinde Waal gibt es endlich wieder einen Dorfladen. Chef ist Hartmut Gieringer und verdient keinen Cent dabei. Er führt ihn ehrenamtlich. In Fürth dagegen betreibt Marika Maisch ein 100 Jahre altes Geschäft. Sie trotzt der übermächtigen Konkurrenz mit fränkischen Produkten – und Selbstgemachtem.

Waal, eine kleine Marktgemeinde im Allgäu, knapp 2500 Einwohner. Gegenüber, auf der anderen Seite des Marktplatzes, steht das Schloss. Hartmut Gieringer sitzt an einem Tisch mitten im Dorfladen, zwischen Kaffeeregal und Ostersortiment. Vor ihm das Schild „Samstags Stammtisch“. Zum Stammtisch kommt hier natürlich keiner. Wegen Corona, nicht weil es Vorbehalte gegen einen Stammtisch zwischen Einkaufsregalen gäbe. Der Dorfladen ist eine der Errungenschaften aus der jüngeren Historie des Ortes.
Es ist ein schlicht, aber modern eingerichteter Laden – mit der einen oder anderen Retro-Anleihe. Das Sofa am Stammtisch macht ein bisschen auf Biedermeier, der Schrank, in dem die Eier stehen, auf Bauernschrank. 186 Quadratmeter Verkaufsfläche, im Vorraum stehen Geldautomaten der Sparkasse, an der Wand hinter der Theke hängt ein Kruzifix.

Einkaufen ging in Waal lange nur mit dem Auto

Statt der Stammtischbrüder sitzt nun Gieringer da und erzählt, wie das alles angefangen hat mit dem Laden. Gieringer, 68, Brille, die Frisur sympathisch ungestüm, ist hier der Chef. Ein Chef, der keinen Cent verdient, nicht einmal Rabatt im eigenen Laden bekommt, und trotzdem sagt: „Das macht richtig Spaß.“ Bis 2012, erzählt Gieringer, habe es an derselben Stelle schon einen Laden gegeben. Doch als der zumachte, stand Waal ohne Laden da. Einkaufen ging nur noch mit dem Auto, der nächste Supermarkt war sechs Kilometer entfernt. Und die Busverbindungen – Gieringer winkt ab.

Ein Zustand, mit dem sich die Waaler aber nicht abfinden wollten – auch wenn er inzwischen fast zum Normalzustand auf dem bayerischen Land geworden ist. Wir brauchen wieder einen Laden, hieß es. Die Initiative ging zunächst vom Gemeinderat aus, dann übernahm eine Gruppe Ehrenamtlicher; Gieringer war einer von ihnen. Ein Pächter war nicht zu finden, also organisierte man sich genossenschaftlich. Rund 300 Familien zeichneten Anteile. Minimum: 200 Euro. Insgesamt kamen so 80 000 Euro zusammen. Dazu noch Fördergelder und Kredite. Ein ordentliches Startkapital. Anfang 2015 begann man mit der Planung, nach gut zwei Jahren war Eröffnung.

In den ersten beiden Jahren schrieb man noch Verlust, seit letztem Jahr läuft es gut. Zuletzt hat das Geschäft sogar von der Pandemie profitiert. „Wir gehören zu den Kriegsgewinnlern“, sagt Gieringer ganz offen. Während der Corona-Krise habe man deutlich zugelegt.

Gieringer ist gelernter Diplom-Kaufmann. Bis zur Rente hat er fast 40 Jahre bei BMW gearbeitet. Und jetzt ist er ehrenamtlich wieder voll im Einsatz. „Ich brauch ja ein Hobby“, sagt er fast entschuldigend. Er kümmert sich um die Finanzen, im Laden selbst arbeiten sechs Angestellte.

Waal ist nur eines der Beispiele, wo sich in den letzten Jahren eine Wiederauferstehung beobachten lässt: die des Tante-Emma-, Krämer- oder eben Dorfladens. Nach dem Krieg deckte man sich in den kleinen Lebensmittelgeschäften noch mit den Dingen des täglichen Bedarfs ein, in den Siebzigern wurden sie jedoch immer mehr von Discountern verdrängt. Beklagt haben die Leute das Ende von Tante Emma allerorten, eingekauft haben sie im Supermarkt. Die Zahl der Lebensmittelgeschäfte in Deutschland sank seit 1970 von 160 000 auf  37 000. Acht Millionen Deutsche, heißt es, seien inzwischen unterversorgt, will heißen: Sie können kein Lebensmittelgeschäft mehr zu Fuß erreichen.

„Einen Moment, ich muss erst mal die Gitarre weglegen“, sagt Marius Kliesch. Am anderen Ende der Leitung hört man kurz den Hall aus dem Resonanzkörper des Instruments, dann ist Kliesch wieder da –  und auch gleich im Thema. Für Tante-Emma-Läden habe er schon immer ein Faible gehabt, erzählt er. Allein dieser Geruch, wenn man den Laden betritt! „Diese Melange aus dem, was der Laden hergibt: Wurst, Seife, Gummibärchen, Waschmittel. Manchmal wird hinten in der Küche noch gekocht.“

Seine Leser kennen Kliesch besser unter dem Namen Tommie Goerz, dem Pseudonym, unter dem er fränkische Krimis schreibt. Zuletzt allerdings war Kliesch in Sachen Tante Emma unterwegs. Mit dem Fotografen Walther Appelt ist er von Laden zu Laden gezogen, hat sich in Franken die letzten ihrer Art angeschaut. Das Ergebnis haben sie nun in Buchform herausgebracht. Tante Emma lebt heißt das Werk hoffnungsfroh, aber Kliesch weiß, dass den meisten der Läden, die er besucht hat, wohl keine allzu lange Zukunft beschieden ist. Die vielleicht letzte Chance also, ihnen noch ein Denkmal zu setzen.

Es waren überwiegend nicht die modernen Dorfläden, sondern alte Familienbetriebe, die Kliesch aufspürte. Hier fand er den Flair, der ihm aus der Kindheit vertraut war. Manche der Geschäfte machten noch während Klieschs Recherche dicht. Von anderen bekam er Sprüche zu hören wie: „Die Jungen kaufm mit dem Auto ein, die kummer net zu mir, und die Altn brauchn immer wenicher und werrn ah immer wenicher.“

Marika Maischs Laden in Fürth ist einer von denen, die Kliesch porträtiert hat. Das Amtsblatt von Fürth feiert ihn als den „Inbegriff des Tante-Emma-Ladens“. Zu Maisch kommen die Leute noch immer. „Tante Emma seit 1920“ steht draußen auf der grünen Markise. 1920 hieß Tante Emma noch Georg Berger und verkaufte vornehmlich Kartoffeln. Berger war Marika Maischs Urgroßvater. „Der Laden war noch miniklein damals“, erzählt sie und zeigt in Richtung Tür. „Der war nur das Stückle da vorne. Und dann hat jede Generation ein bisschen dazugebaut.“

Maisch ist quasi im Laden aufgewachsen. „Es war eigentlich immer klar, dass ich das mal machen werd.“ Bis vor zehn Jahren führte sie das Geschäft gemeinsam mit ihrem Vater, dann übernahm sie.
Wie groß ihr Sortiment ist? Maisch weiß es nicht. Hauptsache ist doch, dass sie alles hat. Ob Cornflakes, Dosenravioli, Glühbirnen oder Katzenstreu, ob Bio-Kurkuma-Extrakt oder Maggi in der Literflasche – alles da. Die Preisschilder sind handgeschrieben. Und nachgefüllt, wird, wenn eine Lücke entsteht. „Ich steh hier, such die Löcher ab und schreib auf.“ Und dann fährt sie zum Großmarkt. Wer den „Maisch“ betritt, betritt eine analoge Welt.

Die Nachfrage ist groß – die Arbeit allerdings auch

Neben den Standards setzt Maisch vor allem auf fränkische Produkte: Bier, Wein, Wurst. Nach Ladenschluss stellt sie sich dann noch in die kleine Küche hinterm Laden und bereitet ihre eigenen Spezialitäten zu: Fruchtaufstrich mit Geschmacksrichtungen wie „Prosecco/Traube“, Eiersalat oder Schafskäse-Creme mit Rucola-Pesto. So hält sich der Laden auch nach 100 Jahren noch. Am Mangel an Konkurrenz kann es nicht liegen. Der nächste Norma ist fünf Minuten entfernt, der nächste Rewe sechs Minuten.

„Aber ich find’s hier angenehmer“, sagt Andreas Müller. „So ein Supermarkt hat etwas Gehetztes, Gestresstes, Anonymes.“ Müller kommt ein, zwei Mal die Woche, erledigt hier seinen gesamten Wocheneinkauf. „Und wenn ich mal kein Geld einstecken hab, kann ich anschreiben lassen.“ Der 42-jährige Soziologe packt Sahne, Mozzarella und Feldsalat in seinen Rucksack, greift sich noch eine Flasche Wein. Was wäre, wenn es den kleinen Laden nicht mehr gäbe? „Gar nicht auszudenken“, ruft Müller, und es klingt nicht gespielt.

So wie Müller denken viele Kunden. Sie schätzen das Persönliche, das Familiäre, die Nähe. Zahlen auch gerne ein paar Cent mehr dafür. Wie kommt es dann, dass so viele Läden es doch nicht geschafft haben, in der schönen neuen Supermarkt-Welt zu überstehen? Die Nachfrage für Geschäfte wie ihres, glaubt Maisch, sei schon da. Nur: Es gebe niemanden mehr, der das machen will. „Es ist halt sehr viel Arbeit. Man muss das schon mögen.“ Ihre beiden Töchter haben ihr schon klargemacht, dass sie den Laden nicht übernehmen wollen.

Die neuen Dorfläden haben es da etwas einfacher. Die genossenschaftliche Organisation bindet die Kundschaft noch stärker an „ihren“ Laden, die Supermarkt-Konkurrenz ist in der Regel weiter entfernt. In Waal steht ein Mann im Janker vor dem Nudelregal. Es ist Wolfgang Gröll. „Ich mach noch schnell ein paar Fotos“, sagt er, „die poste ich dann auf unserer Seite.“ Die Dinkel-Eier-Nudeln sind aus der Region. Angebote wie dieses stehen für das, was den Laden ausmacht. Dass er in nur drei Jahren zur Erfolgsgeschichte wurde, hat aber auch mit Gröll zu tun, dem Vater von Bayerns Dorfladen-Boom. Rund 200 Gründungen hat der Unternehmensberater bereits begleitet – angesichts von insgesamt gut 2000 Gemeinden in Bayern durchaus beeindruckend.

Auch er meint: Die Nachfrage nach dem kleinen Lebensmittelgeschäft in unmittelbarer Nähe habe es die ganze Zeit über gegeben. Nur habe es lange gedauert, bis man – wieder – einen vernünftigen Weg gefunden hat, sie zu befriedigen. Und zu dem gehörten inzwischen eben oft auch bürgerschaftliches Engagement und die Unterstützung der Gemeinde.

Aktuell betreut er rund 50 Läden in der Gründungsphase. Mit seiner kleinen Firma berät der 56-Jährige Gemeinden und Bürger*innen, die einen Dorfladen auf die Beine stellen wollen. Wie groß ist der mögliche Umsatz, wie viel muss investiert werden, wie lässt sich die Finanzierung bewerkstelligen? Gröll rechnet den Menschen vor, wie ihr Unternehmen gelingen kann.

Und eines freut ihn ganz besonders: „Eigentlich sind ja wir die größten Kommunisten“, sagt er. „Weil der Genossenschaftsgedanke ist ja Kommunismus pur, wenn man ehrlich ist. Ausgerechnet wir in Bayern setzen auf Gemeinschaftseigentum. Und es funktioniert.“
(Dominik Baur)

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