„Tooooor!“ Marcus Meier ist ganz aus dem Häuschen. In der 24. Spielminute schlenzt Simon Skarlatidis von den Würzburger Kickers völlig überraschend die Kugel ins Tor des VfR Aalen. Meier springt auf und lässt seiner Freude für einen Moment freien Lauf. Dann verstummt er. Denn Yasser Alhussain und Adem Ülker sollen nun die Atmosphäre im Stadion genießen. Den Jubel. Den aufbrandenden Applaus. Alhussain und Ülker sind stark sehbehindert. Dass eben ein Tor fiel, bekamen sie nur dank der Blindenreportage mit.
Vor drei Jahren begannen die Würzburger Kickers, ein Team aus ehrenamtlichen Blindenreportern aufzubauen. Marcus Meier gehört der Truppe seit zweieinhalb Jahren an. Sein Kollege Michael Kober, mit dem er an diesem Samstag reportiert, ist von Anfang an dabei. „Meine Schwester, die im Würzburger Blindeninstitut arbeitet, hatte damals die Anzeige gesehen, dass Blindenreporter gesucht werden“, erzählt der 22-Jährige. Morgens um sieben Uhr rief sie den Bruder an: „Du, das wäre doch was für dich!“
Die Blindenreporter arbeiten ehrenamtlich
Kober faszinierte der Gedanke, in einem Fußballstadion das „Auge“ blinder Menschen zu werden: „Wobei ich es mir am Anfang gar nicht recht zugetraut habe, zu reportieren.“ Doch Kober ließ sich auf das Abenteuer ein. Mit der Zeit gewann er Selbstvertrauen und Routine. Heute klingen seine Blindenreportagen höchst souverän. Etwa im Drei-Minuten-Takt wechseln sich bei jedem Heimspiel des Würzburger Drittligisten zwei Volunteers, Headsets auf dem Kopf, auf der Haupttribüne des Stadions mit ihrer Blindenreportage ab. Alles wird kommentiert. Wer gerade den Ball hat. Wie der Ball weitergespielt wird. Welcher Spieler ihn geschickt aufnimmt oder „über den Schlappen rollen“ lässt. Wann es brenzlig wird. Wann ein wenig langweilig. Und wann brandgefährlich für die heimische Mannschaft. All das bekommen die blinden Fans über Kopfhörer mit.
Meier und Kober machen ihre Sache brillant. Selbst in hektischen Spielsituationen sind sie imstande, das, was blitzschnell vor ihren Augen abläuft, in Worte zu übersetzen. „Man muss sich sehr konzentrieren“, meint Kober. So ein Nachmittag im Stadion, wo er im Wechsel mit Marcus Meier oder einem anderen Kollegen aus dem sechsköpfigen Sehbehindertenreporter-Team für die blinden Fußballfans berichtet, schlaucht: „Ich bin hinterher echt platt.“ Und doch macht es dem Würzburger Studenten der Sozialpädagogik richtig Spaß. Eben weil es eine echte Herausforderung bedeutet.
Mit Yasser Alhussain und Adem Ülker sind an diesem Tag zwei stark sehbehinderte junge Männer gekommen, um sich das Heimspiel der Kickers gegen die Aalener „anzusehen“. Alhussain lässt sich bereits zum zweiten Mal ein Spiel über Kopfhörer beschreiben. Der 25-Jährige, der aus Syrien stammt, liebt Fußball. In seiner Heimat kickte er regelmäßig. Doch dann wurde sein Augenlicht immer schlechter: „Das begann vor sieben Jahren.“ Heute hat Alhussain noch einen Sehrest von drei Prozent. Die Menschen auf dem Spielfeld kann er schemenhaft wahrnehmen. Den Ball erkennt er nicht.
Ülker, ein in Deutschland aufgewachsener Sohn türkischer Einwanderer, spielte lange in einem Fußballverein. Doch vor zwölf Jahren war Schluss, so der 28-Jährige: „Ich konnte den Ball nicht mehr sehen, wenn er in der Luft war.“ Der in Regensburg wohnhafte junge Mann leidet an einer Netzhauterkrankung. In Würzburg ist er nur zu Besuch. Als Alhussain ihm vorschlug, sich via Blindenreportage ein Fußballmatch anzuschauen, war er gleich dabei. „Das war echt toll“, meinte er hinterher. Er habe das Spiel durch die Reportage fast genauso verfolgen können wie ein Sehender.
Damit es mit der Reportage „flutscht“, bereiten sich Michael Kober und Marcus Meier zu Hause akribisch vor. „Interessant ist, dass einige der Spieler aus der Aalener Mannschaft mal bei den Kickers waren“, sagt Meier. Solche Informationen streuen die Blindenreporter zwischendurch ein. Auch beschreiben sie Spieler, die markant aussehen. Die also zum Beispiel einen Irokesenschnitt haben, auffallend groß oder klein sind. Zu Beginn wird natürlich auch mitgeteilt, wer in welche Richtung spielt. Zwischendurch tauschen die beiden Reporter auch schon mal Meinungen aus. „Das ist gut, dass es hier endlich mal ein bisschen Wallung im Stadion gibt, oder was meinst du, Michi?“ Das macht die Reportagen lebendig. Zu anstrengend wäre es auch, ausschließlich den Beschreibungen zuzuhören.
Manchen blinden Kunden holen sie von zu Hause ab
Alhussain und Ülker schauen hochkonzentriert aus. Vor allem für Alhussain ist es nicht einfach, dem Report zu folgen. Der junge Mann lernt erst seit eineinhalb Jahren deutsch: „Doch ich verstehe schon mehr als beim letzten Mal“, sagt er. Zum Glück vollzieht sich Fußball nach international standardisierten Regeln. „Abseits“, „Freistoß“, „Gelbe Karte“ – das sind Worte, die Alhussain längst intus hat. Nicht nur durch die Blindenreporter. Trotz seiner Sehbehinderung kickt Alhussain zusammen mit Marcus Meier in einer inklusiven Fußballmannschaft, die im Berufsförderungswerk (BFW) Würzburg gegründet wurde.
Blindenreportagen gibt es nicht nur in Würzburg. Erstmals wurde vor 20 Jahren in Leverkusen für blinde Fans reportiert. Der damalige Vorsitzende von Leverkusen, Kurt Vossen, hatte den Service für blinde Fans bei einer Champions-League-Reise zu Manchester United kennengelernt. Dort gibt es heute über 40 Kopfhörerplätze, die regelmäßig besetzt sind. Allmählich fanden sich auch andernorts Fußballenthusiasten bereit, blinden Fans die Teilhabe an Spielen im Stadion zu ermöglichen.
Aufwind bekam die Szene durch die Fußballweltmeisterschaft 2006. An allen Spielstandorten war man verpflichtet, Blindenreports auf Englisch und Deutsch bereitzustellen. Heute bieten sämtliche Bundesligisten diesen Service an. Vor elf Jahren organisierte der Blinden-Fanclub „Die Sehhunde“ eine erste Schulung für Blindenreporter. Vor genau zehn Jahren begann die Deutsche Fußball Liga, jährliche Tagungen für Reporter und Beauftragte für behinderte Fans zu veranstalten. „Auch wir nehmen regelmäßig an Workshops teil“, sagt Meier. Obwohl er, Kober und die anderen vier Reporter das, was sie tun, freiwillig machen, haben sie einen hohen Qualitätsanspruch. So wird jede Live-Reportage mitgeschnitten und auf einer mp3-Datei festgehalten. „Die hören wir uns nach dem Spiel an“, erklärt Meier. Manöverkritik ist erlaubt. Nur so kann man sich verbessern.'
Das Team der Blindenreporter aber begnügt sich nicht nur damit, live über die Spiele zu berichten. Es wirbt bei blinden Menschen auch dafür, ins Stadion zu gehen. Denn das kostet Mut. Über den Reporter-Service und die Heimspieltermine der Kickers berichtet die Truppe regelmäßig in den Newslettern des bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbunds sowie des BFW Würzburg. Die inzwischen 15 blinden „Kunden“, die immer mal wieder bei Kickers-Heimspielen dabei sind, werden zusätzlich über einen eigenen Newsletter informiert. Einige der Dauerkunden holen die Reporter vor dem Spiel sogar von zu Hause ab. (Pat Christ)
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