Leben in Bayern

Längst aus dem Stadtbild verschwunden: Tarzan und Jane im Leo-Look. (Fotos Konrad Kittl, Klick Klack Publishing)

14.12.2018

Vogelwilde Subkultur

Cooler als London, wilder als Berlin: Ausgerechnet vom sauberen München aus eroberte die Graffiti-Bewegung Europa

Verwegene Farben und von ausgefeilter Technik noch keine Spur: Bei einem Anwalt haben drei Münchner Privataufnahmen der frühen Graffiti-Szene entdeckt – und sie veröffentlicht. So wild und rebellisch war die Bewegung damals, dass sogar Sprüher aus Amsterdam, New York und Paris in die Isar-Metropole kamen. Heute aber habe die Stadt ihren Spirit verloren, klagen die jungen Verleger.

Tarzan und Jane im Leo-Look, flankiert von zwei Affen. Ein fetter, gelber „Boom!“-Schriftzug an der Hauswand. Abstrakte Zeichen und rätselhafte Buchstabenkombinationen an Münchens Unterführungen und entlang der U-Bahn-Linie. Als Leonhard Rothmoser, Jonas Hirschmann und Roman Häbler, Gründer des Münchner Verlags „Klick Klack Publishing“, die Fotografien dieser einfachen, teils fehlerhaft gesprühten Bilder sahen, wussten sie sofort: Das ist ein wahrer Schatz.  Denn sie markieren nichts weniger als den Beginn der Graffiti-Bewegung in Deutschland und Europa.

„Wir saßen im Wohnzimmer von Münchens erstem Sprüher-Anwalt Konrad Kittl. Eigentlich wollten wir von ihm mehr über die Gerichtsverfahren gegen Jugendliche erfahren, die er in den 80er-Jahren verteidigte“, sagt Häbler. Stattdessen zog der pensionierte Strafverteidiger sechs dicke Alben mit Fotografien heraus, die er bei Spaziergängen im Olympiapark, in Schwabing und in Milbertshofen vor mehr als 30 Jahren gemacht hatte. „Obwohl wir uns in den Publikationen unseres Verlags intensiv mit dem Phänomen Graffiti beschäftigen und viele Old-School-Bilder aus München kennen, waren uns diese unbekannt, denn sie waren noch älter“, erzählt Häbler.

Die Stadt in den 80ern: ein Abenteuerspielplatz

Der inzwischen verstorbene Kittl war fasziniert von den Bildern, die da plötzlich –  quasi über Nacht – an den jungfräulichen Wänden auftauchten. „Er begann sie zu fotografieren, ohne überhaupt zu wissen, dass dies Graffiti ist, denn das Phänomen war im Mainstream noch nicht angekommen.“

Das jetzt erschienene Buch Zar Zip Fly Zoro. Die erste Schicht Graffiti in München beschäftigt sich genau mit diesen längst verschwundenen Werken zwischen 1983 bis 1989. Es zeigt die Geburtsstunde des Graffiti, den chaotischen Untergrund, aus dem schnell ein Hype erwuchs, der von der Isar-Metropole nach und nach die Städte eroberte.

In München wurde die erste S-Bahn besprüht und ging als „Geltendorf Train“ in die Geschichte ein, hier gab es mit den Dachauer Flohmarkthallen die größte „Hall of Fame“ Europas, auf der sich jeder legal austoben konnte. Nach München kamen Sprüher aus Amsterdam, New York und Paris.   

Warum ausgerechnet das saubere, reiche München den Nährboden für diese Subkultur bot, dafür gibt es viele Thesen. „München ist eine Residenzstadt mit viel Kunst. Dazu haben die Olympischen Spiele die Stadt grafisch und visuell geprägt – all das könnte den Jugendlichen ästhetischen Input gegeben haben“, erklärt Häbler. Eine Rolle habe sicher auch die amerikanische Besatzung gespielt. „Durch die US-Soldaten schwappte früh die Breakdance-Bewegung rüber, die jungen Leute hörten Rap und kamen so auch mit Graffiti in Berührung.“

Inspiriert von amerikanischen Hip-Hop-Filmen wie Wild Style und Beat Street zog die Jugend nachts los. Rebellierte gegen die Elterngeneration und die Mehrheitsgesellschaft. Eroberte die schmucke Stadt, suchte geeignete Plätze und den Kick, setzte Zeichen. So entstand auch das „Style-Writing“.

„Die Sprayer gaben sich einen Kunstnamen, entwickelten einen Style dafür und verbreiteten ihn“, erklärt Häbler. Da waren Ray und Zoro oder aber Don M. Zaza, Cheech H., Blash, Roy, Roscoe, Zip und Cryptic2, der heute als Loomit international bekannt ist. Die sieben erlangten „Fame“, als sie besagten S-Bahn-Zug auf einem Abstellgleis in Geltendorf in voller Länge besprühten.

Von den professionellen, makellosen Graffitis unserer Tage waren diese ersten Bilder allerdings noch weit entfernt. Ausgefeilte Styles und Technik? Nix da. Die Farben? Vogelwild. Gesprüht wurde mit einfachen Farblackdosen, die nicht für Wände, sondern Autos vorgesehen waren. „Sie haben getropft, schlecht gedeckt. Man hatte nicht 15 verschiedene Sprühaufsätze. Um besser zu werden, musste man üben – den Platz dafür gab’s.“ Die Stadt war ein Abenteuerspielplatz. Nicht jeder kleinste Quadratmeter verbaut, plakatiert, beleuchtet, videoüberwacht.

Die Jugendlichen kamen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, gehörten der Punk-, Hip-Hop- oder Comicszene an und haben ohne Vorwissen frei aus dem Kopf heraus gemalt. „Sie hatten kein Internet, nicht schon hundert Bücher und Magazine gelesen – und waren gerade deswegen so kreativ“, erzählt Häbler. Die Lust am Experiment mit Farbe und Form, die Ehrlichkeit, Energie und Impulsivität, die in Bildern rüberkomme, haben ihn und seine Kollegen begeistert. „Die Kids sind einfach rausgegangen und haben gesagt: Hier soll mein Bild sein und wenn es nach zwei Wochen weggemacht wird, oder jemand drübersprüht, ist das okay.“

Heute gibt es für Sprayer nur noch eine legale Fläche

Um den Ursprung des Graffiti in München zu beleuchten, durften die Verlagsgründer nicht nur auf das Archiv von Kittl, sondern auch auf die Fotos des emeritierten Volkskundeprofessors Peter Kreuzer zurückgreifen. Kreuzer dokumentierte ab 1986 für das Stadtarchiv-Projekt „Alltag in München“ Werke der sich entwickelnden Szene, veröffentlichte das „Graffiti-Lexikon“ und hielt die ersten Vorlesungen über die Jugendkultur. Später gründeten Kittl und Kreuzer die Europäische Graffiti Union (EGU), die sich für die Interessen der Sprüher einsetzte, Aufträge generierte, Sprühflächen legalisieren ließ und somit für die erste Generation der Writer den Weg ebnete.

Doch wie geht die Stadt heute mit dieser Bewegung um, für die es in der Öffentlichkeit meist nur zwei Schlagworte gibt: Kunst oder Vandalismus? „In allen Städten, in denen es an Wohnraum mangelt und viel modernisiert wird, fehlen Flächen, auf denen Graffitis geduldet werden und die Writer einfach mal drauflos sprühen können“, sagt Häbler. Doch im Vergleich schneide München besonders schlecht ab. „Alles, was wild, rebellisch und subversiv angehaucht ist, findet nur im reglementierten, eventisierten Rahmen statt – und dient irgendwelchen Interessen.“

Wenn Berufs-Sprüher im Auftrag der Stadt in stundenlanger Feinarbeit eine schmutzige Unterführung gestalten und sogar die Oma begeistert stehen bleibe, werde das als Win-win-Situation vermarktet. Werde eine Hausfassade von einem berühmten Graffitikünstler dekoriert, sei es große Kunst. „Aber der Schriftzug an der Wand, das implizit politische und im ersten Moment nicht so leicht Verständliche, wird als Störelement und Schmiererei abgetan. Alle Graubereiche dazwischen, die so spannend sind, werden ausgeblendet.“

Auch die städtische Internetseite muenchengraffiti.de, die über Street-Art in München informiert und von „Klick Klack Publishing“ mitkonzipiert wurde, ist gerade off-line. Angeblich wurden zu viele illegale Graffitis gezeigt. „Dabei glorifizieren wir Sachschaden nicht, sondern dokumentieren unabhängig. Und wenn acht von neun Sprühern sagen: Dieser bemalte Zug war das relevanteste Bild 2001, nehmen wir es natürlich auf.“

Die junge Szene schaut sowieso in die Röhre. Mit der Mauer an der Tumblingerstraße im Schlachthofviertel gibt es gerade mal noch eine legale Fläche, auf der sich Sprüher ohne Voranmeldung ausprobieren können. „Dabei gibt es durchaus Unterführungen und Plätze, an denen Graffitis geduldet werden könnten“, findet Häbler. Überraschungsmomente durch Graffitis gebe es im Alltag kaum noch. „Damit wird München nicht nur langweilig, sondern verliert auch den Spirit, der Urbanität ausmacht.“
(Ruth van Doornik)

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