Leben in Bayern

Noch müssen die Patienten im Regelfall in die Praxis kommen. Foto: ddp

13.08.2010

Zahnfee auf Rädern

Dentisten sind bislang vor allem auf jüngere Menschen spezialisiert – Mobile Dienste wollen das ändern

Man beginnt unten links, auf der Innenseite, mit kleinen, rüttelnden Bewegungen. Begibt sich zum nächsten Zahnpaar. Rüttelt weiter bis zur unteren Mitte. Putzt die rechte Innenseite. Wendet sich der Innenseite rechts oben zu, die Borsten zum Zahnfleischsaum gerichtet. Putzt bis zur Innenseite der Frontzähne, dann die Innenseite links. Es folgen die Kauflächen, auch das mit System. Zuletzt die Außenseiten, ebenfalls rüttelnd.
All das tut man – so lange man noch kann. Cornelius Haffner öffnet mit Schwung den Kofferraum seines gelbgrünen Smarts. Es ist ein sonniger Morgen. Im Altenheim St. Michael in München-Perlach wurde bereits gefrühstückt, zum Mittagessen ist es noch ein Weilchen hin. Haffner schleppt seinen Metallkoffer durchs blankgescheuerte Foyer. Im Koffer ist alles, was Haffner braucht: ein Absauggerät, ein Bohrer, diverse Aufsätze, ein Ultraschallgerät, um Zahnstein zu beseitigen, ein Wasserluftspray. Eine Minizahnarztpraxis kann Dentist Haffner damit aufbauen.
Nur ein ein paar Utensilien fehlen am Ende noch: etwa jemner höhenverstellbare Stuhl, der Arzt und Patient ins korrekte Verhältnis setzt. Auch auf die suppentellergroße Lampen und die obligatorischen Metallschränke muss der Patient verzichten. Aber Haffners Ausrüstung ist gut genug, um kleinere Eingriffe durchzuführen, auf sehr unkomplizierte Weise.
Zahnarzt Haffner ist ein sportlicher, gutgelaunter Mann, er arbeitet mobil, am Sessel oder Bett da, wo es Not tut. Er ist ein Arzt, der ins Krankenhaus kommt, wenn ein Patient nach der Operation abgemagert ist und seine Prothese nicht mehr sitzt oder ein Zahn wehtut und jemand vor lauter Schmerzen nicht mehr essen kann.
Vor allem aber besuchen Haffner und sein Team Seniorenheime wie das St. Michael, das 172 Patienten beherbergt, Altersdurchschnitt: 88 Jahre. Es gibt hier rüstige und schwerst pflegebedürftige Senioren. Knapp die Hälfte fällt unter Pflegestufe zwei und höher. „Ein vorbildliches Altenheim“, findet Haffner. Man könnte vieles unter so einem Kompliment verstehen: eine fürsorgliche Pflege, eine patientengerechte Versorgung, ein gutes Management oder auch nur Linoleumböden, so sauber, dass man davon essen kann. Aber vorbildlich ist für Haffner, den Zahnarzt, in St. Michael vor allem eins: Die Gebissqualität der Bewohner.
2001 haben Christoph Benz und Cornelius Haffner von der Münchner Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie das „Teamwerk-Zahmedizin“ ins Leben gerufen. Bis 2013 stellt die AOK Geld für das Projekt zur Verfügung.
Und das Modelll könnte bald Schule machen: Viele andere Städte im In- und Ausland interessieren sich inzwischen für das Modellprojekt, es soll bundesweit Schule machen. Derzeit betreuen Haffner und sein Team alle Münchner AOK-Patienten, die in Pflegeheimen leben. 1500 Menschen, für die der Weg zum nächsten Zahnarzt eine Prozedur ist. Die sich selbst nicht mehr gut versorgen können. Die vielleicht ganz vergessen haben, wozu man Zähne putzt.
Dabei ist ein gesundes Gebiss nicht nur schöner, es erhält auch die Fähigkeit, zu essen. „Nicht zuletzt verhindern wir so manche Magensonde“, meint Haffner. Denn Gewichtsabnahme kann die gefährliche Folge unerträglicher Zahnschmerzen sein.
Vor allem bei dementen Patienten, die ihre Schmerzen nicht benennen können, bleibt dieser Zusammenhang, so Haffner, oft unerkannt. Was hat das Team in den vergangenen Jahren auf seiner Odyssee durch die Münchner Heime nicht alles gesehen: Schmuddelige, ungeputzte Zähne, vermeidbare Zahnfleischentzündungen, klappernde Gebisse, Karies, abgebrochene Zähne, Zungenbelag. Münder, die höchstens mal ausgespült werden. „Dabei geht Autowaschen auch nicht ohne Bürsten“, sagt Haffner.

Früher brauchte man
nur etwas Kukident


Die Pflegekräfte, meint er, wüssten oft gar nicht, wie man das macht: Einem alten Menschen die Zähne putzen. Denn das ist gar nicht so einfach. Früher hantierte man mit Prothese, Kukident, einem Wasserglas und Haftcreme. Inzwischen pflegen die Deutschen ihre Zähne besser und behalten so manchen Zahn bis ins hohe Alter.
Im Mundraum stehen dann echte Zähne und Teilkronen und Implantate und herausnehmbare Gebissteile dicht an dicht, Ergebnis einer ganz individuellen Geschichte, geflochten aus genetischer Grundausstattung, persönlicher Pflege, Ernährungsgewohnheiten und zahnärztlicher Versorgung. „Jeder einzelne Zahn ist uns wichtig“, meint Haffner. „Noch vor ein paar Jahren hat ein Zahnarzt alten Menschen einfach alle Zähne gezogen und eine Totalprothese eingesetzt. Heute denken wir anders.“
Der echte Zahn: Er hat also in den vergangenen Jahren an Würde gewonnen, auch wenn er gilb und klein und einsam aus dem Kiefer ragt. Das hat auch praktische Gründe: Die Menschen werden älter. Ihre Zähne halten länger. Wer hochbetagt noch eine Totalprothese bekommt, gewöhnt sich daran kaum noch. An echten Zähnen kann man Teilprothesen befestigen, damit lebt es sich leichter.
Für den Heimleiter des Hauses, Michael Klotz, ist es ein großes Glück, dass Haffner und sein Prophylaxeteam den Hausbewohnern in die Münder schaut und das Personal darin schult, Zähne zu putzen. Denn in der Regel sinkt die Zahngesundheit dramatisch ab, wenn ein Mensch ins Pflegeheim kommt und sich nicht mehr selbst versorgen kann.

Butter und Süßigkeiten
im Nachttisch


Zum einen fehlt den Pflegekräften Zeit und Know-How. Zum anderen ist das Risiko, an Entzündungen des Zahnfleisches zu erkranken, im Alter besonders groß. Und auch der Karies verschont die letzten bleibenden Zähnen nicht. Denn der Speichel fließt spärlicher als in jungen Jahren. Und wie kleine Kinder essen auch alte Menschen sehr gern Süßes. „In den Zimmer stapeln sich Süßigkeiten, Schokolade und Kekse. Vielleicht, weil sich der Geschmackssinn für süß bis zuletzt bewahrt.“, meint Klotz.
Niemals würde dieser bedächtige, einfühlsame Mann darauf Einfluss nehmen. „Die Menschen sind glücklicher, wenn sie ihre Süßigkeiten essen“; sagt er und ergänzt: „Bei den Höchstaltrigen geht es um Lebensqualität, um das seelische Wohlbefinden. Etwas Neues bringen wir denen nicht mehr bei.“
Also müssen die hochbetagten Münder besonders gut gepflegt werden. Zunächst schauen Haffner und sein Team im Bad der Senioren nach, ob überhaupt Mundpflegemittel da sind, eine fluorhaltige Zahnpasta zum Beispiel. „Zahnseide finden Sie sowieso nirgends“, sagt Haffner. Sie prüfen die sogenannten „Zuckerimpulse“ ihrer Patienten und gucken dabei auch schon mal in ein Nachtkästchen rein, auf der Suche nach Naschereien.
Die Patienten machen es sich in den Sesseln oder im Bett auf ihren Zimmern bequem, die Fernseher laufen, Haffner und sein Team säubern Implantate, kümmern sich um Druckstellen, befreien die Zähne von Zahnstein, oder unterfüttern eine Prothese. „Wir bohren auch am Bett, machen kleine Füllungen, beschleifen Prothesen oder reduzieren einen Zahn. Manchmal ziehen wir einen Wurzelrest.“ Aber bei größeren Eingriffen schicke er den Patienten in die Zahnarztpraxis.
Den großen Zahnarztbesuch kann das Team nicht ersetzen, übernimmt aber sehr wohl die Prophylaxe, jenseits des Modellprojekts immer noch keine Kassenleistung, obwohl sich alte Menschen oftmals die professionelle Zahnreinigung nicht leisten können.
Auch wirtschaftlich, haben Benz und Haffner ermittelt, rechnet sich die mobile Versorgung für die Krankenkassen: Die Großbehandlung eines über längere Zeit ungepflegten Gebisses sei sehr viel teuerer als die Prophylaxeleistungen, die sie erbringen. Aber das Team tut nicht nur etwas für die Zähne, sondern auch für die Seelen der Hausbewohner. Nur 7 Prozent der Patienten, sagt Haffner, erreichen sie nicht mit ihrem Angebot. Häufig handelt es sich um Demenzkranke, die unruhig sind, Angst haben vor der Zahnbürste oder sich nicht anfassen lassen wollen.
Für alle anderen Patienten kommt mit den Zahnarztbesuchen aber doch ein wenig Schwung und Abwechslung in die Zimmer, zum Beispiel in das von Berta Schüller. „Schaun wir mal, ob ein Zahn nachgewachsen ist“, scherzt die zahnärztliche Fachassistentin Marianne Schwarzmüller. Berta Schüller, 89 Jahre, in Folge einer Diabetes beidseitig beinamputiert, verneint.
Sie spricht etwas undeutlich, ihr Gebiss ist zahnlos, Frau Schüller mag Prothesen nicht, irgendwie hat ihre Prothese nicht gepasst, erzählt sie, eine Entzündung im Knochen, es war unangenehm, also hat sie sich entschieden, keine Prothese zu tragen. Lieber lernt sie, das ABC zu sprechen, zahnlos und trotzdem deutlich.
Im Nachttisch bewahrt Berta Schüller gerade Butterstücke auf, „für das Kartoffelpüree am Mittag, da schmeckt es besser“. „Na ja“, sagt Haffner, der Schüller gern zu einer Prothese überreden würde, „Ihr Ernährungszustand ist immerhin gut.“
Haffner schaltet das Licht an seiner Stirn ein. Er bescheinigt Schüller eine sehr schön saubere Zunge, „das ist das Zungenbürschtel“ sagt Frau Schüller. „Sie hätten wunderbare Verhältnisse im Mund für eine Prothese. Und sie sind so fit, dass sie damit auch zurecht kämen.“ „Nein, Herr Doktor“, sagt  Schüller. „Gut“, sagt Haffner.
Dann schauendie beiden noch ein paar Fotos von den Großneffen an, die Frau Schüller gerade geschickt bekommen hat und verabschieden sich ins nächste Quartal. Frau Schüller winkt. „Wer weiß“, sagt die alte Dame vergnügt. „Vielleicht wächst ja bis zum nächsten Mal doch noch ein Weisheitszahn.“ (Monika Goetsch)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll das Gesetz für mehr Barrierefreiheit gelockert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
X
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.