Politik

Leserinnen und Leser mögen es schnell und einfach. Komplexe Themen lassen sich im Journalismus nur noch schwer transportieren. (Foto: dpa/Hirsch)

01.07.2022

"Ausgewogene Artikel finden weniger Aufmerksamkeit"

Kommunikationswissenschaftler Christian Schwarzenegger über Cancel Culture, Zensur in sozialen Netzwerken und Vertrauensverlust gegenüber den klassischen Medien

Christian Schwarzenegger forscht an der Universität Augsburg zum Medienwandel. Im BSZ-Interview kritisiert er die Schere im Kopf mancher Medienschaffenden, die Willkür bei der Löschung von Beiträgen in Social Media und die überhitzte Debattenkultur, in der Ausgewogenheit und Ambivalenz oft unter die Räder kommen.

BSZ: Herr Schwarzenegger, viele Menschen sehen durch Cancel Culture, also immer kleiner werdende Debatten- und Meinungskorridore, das kritische Denken in Gefahr. Stimmen Sie ihnen zu?
Christian Schwarzenegger: Nein. Es wird suggeriert, dass es sich dabei um ein Massenphänomen handelt. Man dürfe ja gar nichts mehr sagen. Beispiele für ein Sprechverbot gibt es aber nur sehr wenige. Das Konkrete ist der Feind der Cancel-Culture-Anhänger. Häufig handelt es sich dabei um Personen, die es bisher einfach nicht gewohnt waren, Widerspruch zu erfahren. 

BSZ: Aber es gibt doch prominente Beispiele: Der Vorstand einer deutschen Krankenkasse wurde gefeuert, weil er sich kritisch zu den Impfnebenwirkungen geäußert hat. Auch die Opernsängerin Anna Netrebko darf nicht mehr in München auftreten, weil sie sich angeblich zu wenig vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine distanziert hat.
Schwarzenegger: Man muss differenzieren, wer "cancelt". Wenn ein Privatunternehmen die Zusammenarbeit mit einer Person ablehnt, ist das nichts, was politisch vorgegeben wurde und mit Zensur verglichen werden kann. Dahinter stecken kommerzielle Entscheidungen, wie sich die Marke positionieren will. Das kann man natürlich kritisch hinterfragen, aber es ist nicht die Politik, die sagt, dass etwas nicht stattfinden darf. 

BSZ: Es werden auch viele Seiten in sozialen Medien zensiert. Allein Youtube hat 2021 über elf Millionen Kanäle gelöscht – beispielsweise vom Publizisten Henryk M. Broder oder vom Mikrobiologieprofessor Sucharit Bhakdi. Muss eine Demokratie das nicht aushalten?
Schwarzenegger: Die Moderationsregeln sind sehr intransparent. Das ist enorm problematisch. Leider hat die Politik die Verantwortung für die Inhalte weitgehend auf die Plattformen übertragen. Sie sollen sich zwar an die Rechtslage halten, aber natürlich ist es kein ausgehandelter Prozess, wenn Konten gesperrt oder Inhalte gelöscht werden. Plattformen müssten viel klarer kommunizieren, nach welchen Maßgaben sie entscheiden. Auch den Warnhinweis von Facebook bei Posts zu Corona haben viele Menschen als Eingriff in ihre Meinungshoheit empfunden.

BSZ: In der Corona-Krise haben nur wenige Medien über die negativen Auswirkungen der politischen Entscheidungen berichtet, obwohl sie bereits offensichtlich waren. Fand eine Art Selbstzensur statt?
Schwarzenegger: Tatsächlich gab es den journalistisch schädlichen Gedanken, der "Gegenseite" kein Futter geben zu wollen. Also zu überlegen: Könnten kritische Berichte falsch interpretiert werden, von Gegnern für politische Zwecke missbraucht werden oder Auswirkungen auf die Impfbereitschaft haben? Im Journalismus ist es wichtig, die Konsequenzen der Berichterstattung zu beachten. Dabei sollte aber nicht in die Berichterstattung eingegriffen werden, weil es sonst zu einem Vakuum an Perspektiven kommt. Mediennutzende wandern dann zu Quellen ab, wo sie das lesen können, was andere vermeintlich verschweigen – und landen schnell im rechtspopulistischen oder verschwörungstheoretischen Milieu. 

BSZ: Nicht alles ist aber dann gleich rechtspopulistisch. Sie selbst haben systemkritische Alternativmedien als „wichtige Arenen der Gegenöffentlichkeit und legitimen gesellschaftlichen Kritik“ bezeichnet.
Schwarzenegger: Es hängt immer davon ab, mit wem man es zu tun hat. Nicht alle, die sich als seriös bezeichnen, sind es. Vieles ist an der Grenze zur Desinformation oder Verfassungsfeindlichkeit. Aber es gibt seit Jahrzehnten eine florierende Szene an Medien, die andere Standpunkte vertreten, Minderheiten repräsentieren, abweichende Positionen einnehmen und damit das Meinungsspektrum bereichern. Ich denke dabei zum Beispiel an die Szene freier Radiosender oder hochqualitative Blogs. Energisches Widersprechen gehört zum Meinungspluralismus. 

BSZ: Egal ob zum Beispiel Klimawandel, Windkraft, Frauenquote oder das Gender-Thema: Es gibt immer nur dafür oder dagegen. In einem Zweiparteiensystem wie in den USA wäre das vielleicht noch verständlich. In einem pluralistischen Parteiensystem sollte es aber doch auch abgestufte Meinungen geben.
Schwarzenegger: Nuancen und komplexe Themen lassen sich im Journalismus schwer transportieren. Das soll keine Journalistenschelte sein. Aber das Gute gegen das Böse, die einen gegen die anderen – das lässt sich einfach besser erzählen und wird besser geklickt. Emotionen wie Wut und Ärger laufen auch besser auf Social Media. Ausgewogene Artikel finden einfach weniger Aufmerksamkeit. Zusätzlich haben wir eine sehr überhitzte Debattenkultur entwickelt, in der es vor allem um schnelle Bewertungen und Positionierung geht – unter Auslassung von Ausgewogenheit und Ambivalenz. 

BSZ: Laut der Umfrage der Marktforschungsfirma Edelman Data & Intelligence, die jedes Jahr das Edelman Trust Barometer erstellt, kam es 2022 zu einem Vertrauensverlust gegenüber den Medien. Teilweise schnitten sogar Wirtschaftsunternehmen in der Bewertung von Informationsleistungen besser ab. Woran liegt das?
Schwarzenegger: Aus der Forschung wissen wir: Menschen nutzen gern Medien, von denen sie wissen, wie sie ticken. Wenn sie zum Beispiel Nachrichten von einem Finanzdienstleister lesen, glauben sie, kompetent genug zu sein, zu erkennen, was stimmt oder wo sie beeinflusst werden sollen. Wir haben auch Interviews mit Leserinnen und Lesern von Russia Today geführt. Die sagen: Das ist die russische Perspektive, das kann ich filtern. Bei klassischen Medien wissen sie oft nicht, mit welcher Absicht diese kommunizieren. Aber man muss auch sagen: Ein "gesundes" Misstrauen gegenüber den Medien kann auch ein Zeichen von Medienkompetenz sein. Solange es nicht in bedingungslose Ablehnung umschlägt.

BSZ: Gemäß einer Studie der Universitäten in München und Mainz schätzte knapp jeder fünfte Befragte während Corona die Medien als tendenziös ein. Überrascht Sie das?
Schwarzenegger: Menschen haben bei einer solchen Bewertung kein objektives Maß, sondern nehmen eine persönliche Bewertung vor. Den einen war die Berichterstattung viel zu übertrieben, den anderen zu verharmlosend. Wenn sich die Meinung nicht mit der persönlichen Anschauung deckt, nimmt man schnell eine negative Tendenz gegen sich wahr. Studien aus den USA haben gezeigt: Sowohl linke als auch rechte Aktivistinnen und Aktivisten hatten das Gefühl, dass die Mainstream Medien gegen sie sind. 

BSZ: Sind Sie persönlich noch in sozialen Netzwerken aktiv?
Schwarzenegger: Ja. Ich achte aber darauf, wie ich mich öffentlich positioniere, um mich nicht zur Zielscheibe zu machen. Das hat weniger mit Cancel Culture als mit gezielter Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun. Gerade bei Posts über meine Forschung zu Rechtsextremismus machen die, die sich sonst immer über die fehlende Meinungsfreiheit beschweren, schnell große Probleme. Im privaten Kontext sehe ich auch kritischen Stimmen gelassen entgegen. (Interview: David Lohmann)

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