Politik

Bei Impfschäden erhalten Betroffene Rentenzahlungen, sagt der Münchner Medizinrechts-Anwalt Rudolf Ratzel. (Foto: dpa/Wolfgang Kumm)

03.12.2021

"Bei Impfschäden muss der Freistaat zahlen"

Medizinrechts-Anwalt Rudolf Ratzel über die Impfpflicht, Entschädigung bei Nebenwirkungen, Grundrechtseinschränkungen und die Rechtslage für einen neuen Lockdown

Rudolf Ratzel ist Vorsitzender und Europabeauftragter des Medizinrechtsausschusses des Deutschen Anwaltsvereins. Der Münchner rechnet fest mit einer Impfpflicht, die dann ein Leben lang gilt – also auch für Auffrischungsimpfungen. Gleichzeitig kritisiert er die harten Corona-Maßnahmen der Staatsregierung im Frühjahr: Bayern habe stärker als andere Bundesländer in die Freiheitsrechte „reingegrätscht“.

BSZ: Herr Ratzel, der Chef des Impfstoffherstellers Moderna hat bei der Omikron-Variante Zweifel an der Wirksamkeit der Corona-Vakzine. Was bedeutet das für die aktuell diskutierte Impfpflicht?
Rudolf Ratzel: Zunächst mal gar nichts. Das ist die Einschätzung aus Sicht eines Fachmanns – Biontech hat die Aussage bereits relativiert. So oder so: Die Impfung ist jedenfalls nicht wirkungslos, möglicherweise eingeschränkt. Ein weiteres Statement dazu wird man von einem Juristen nicht bekommen. Das ist Aufgabe der Wissenschaft. Bei der Impfpflicht lege ich mich aber eindeutig fest: Das ist problemlos möglich. Das sehen auch viele andere prominenten Juristen so. 

BSZ: Gilt das auch, wenn sich herausstellen sollte, dass die Omikron-Variante weniger gefährlich ist als bisher angenommen?
Ratzel: Aus meiner Sicht: Ja. Es gibt ja nicht nur Omikron, sondern auch Delta. Die Risiken einer Impfung sind überschaubar, der Nutzen ist evident – selbst, wenn er möglicherweise eingeschränkt ist. Eine Impfpflicht ist sowieso nicht vor März oder April umsetzbar. Bis dahin liegen die Erkenntnisse über Omikron vor. 

BSZ: Bei Masern oder Pocken ist man nach einer Impfung ein Leben lang immun. Die EU will die Gültigkeit der Impfzertifikate auf neun Monate begrenzen. Bedeutet das, dass wir uns bei einer Impfpflicht bei nachlassender Wirkung oder neuen Mutationen ein Leben lang nachimpfen lassen müssen?
Ratzel: Davon gehe ich aus. Corona wird uns noch lange begleiten. Gegen die Grippe sollte man sich ja auch jedes Jahr impfen lassen, weil das Virus sich verändert. Rechtlich ist das aus meiner Sicht möglich, weil das Risiko-Nutzen-Verhältnis überwiegt. Es sind kaum Fälle bekannt, in denen sich die Impfung negativ ausgewirkt hat. 

BSZ: Das Risiko einer schwerwiegenden Nebenwirkung durch eine Corona-Impfung liegt laut Paul-Ehrlich-Institut bei 0,02 Prozent. Das heißt, eine von 5000 Personen erkrankt schwer. Wer haftet bei Impfschäden?
Ratzel: Bei einer staatlich empfohlenen Impfung, die gemäß der Ständigen Impfkommission bei zwölf Jahren beginnt, gibt es eine Staatshaftung, die verschuldensunabhängig ist. Das gilt auch bei einer Notfallzulassung. Bei Impfschäden erhalten Betroffene Rentenzahlungen. Zahlungspflichtig ist das Bundesland, in dem die Impfung stattgefunden hat. Daneben gibt es die Herstellerhaftung, wenn Schäden auf ein fehlerhaftes Produkt zurückzuführen sind. Der Nachweis ist allerdings schwierig. Die EU hat aber wohl einen Deal mit den Impfstoffherstellern abgeschlossen, wonach die Haftung im Innenverhältnis von staatlicher Seite übernommen wird, weil es nur wenig Zeit für ausführliche Tests gab. Das ist jedenfalls mein Kenntnisstand. Daneben gibt es die normale Arzthaftung, wenn es zum Beispiel wegen möglicher Vorschäden oder einer Impfung trotz akuter Erkrankung, also einer Kontraindikation, zu einem Impfschaden kommt. 

BSZ: Inzwischen sind fast 80 Prozent der über 18-jährigen Deutschen geimpft. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Woche entschieden, dass Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen im Frühjahr mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen sind. Was bedeutet das für die Impfpflicht und zukünftige Ausgangsbeschränkungen?
Ratzel: So wie ich die mündlichen Beschlussgründe verstanden habe, wirken tragende Gründe der Entscheidung auch für die Zukunft, weil trotz der hohen Impfquote kein dauerhafter Impfschutz zu erzielen ist. Ursprünglich hatten Virologen eine Herdenimmunität bei einer Impfquote von 75 Prozent plus vorhergesagt, jetzt sind es mindestens 90 Prozent. 

BSZ: Ende Juni hatte Angela Merkel (CDU) die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts, die über die Bundesnotbremse urteilen, zum Abendessen ins Kanzleramt eingeladen. Das hat ein Geschmäckle.
Ratzel: Das ist mindestens ungeschickt gewesen. Ich glaube aber nicht, dass ein Befangenheitsgrund besteht. Persönlich hätte ich eher davon Abstand genommen. 
BSZ Grundrechte sind gerade für Krisenzeiten da. Ist es verhältnismäßig, wenn diese seit 19 Monaten eingeschränkt sind?
Ratzel Ja, das hat das Verfassungsgericht deutlich betont. Natürlich ist die Verhältnismäßigkeit ein wichtiger Faktor. Aber angesichts der Bedrohungslage ist sie gewahrt. Der Gesetzgeber muss aber kontinuierlich hinterfragen, ob das auch zukünftig noch der Fall ist. 

BSZ: Ausgangssperren oder Lockdowns waren rechtlich wegen der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ möglich. Diese ist am 25. November ausgelaufen. Trotzdem schließt die Ampel-Koalition diese Maßnahmen in Zukunft nicht aus. Wie ist das rechtlich möglich?
Ratzel: Ein bundesweiter Lockdown ist nach der aktuellen Rechtslage nicht mehr möglich. Der wohl zukünftige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lässt sich zwar alle Optionen offen. Ich persönlich halte es aber für unwahrscheinlich, weil es erhebliche politische und wirtschaftliche Auswirkungen hätte. Kontaktbeschränkungen oder die Schließung von Clubs und Bars oder sonstige regionale Maßnahmen sind aber auch nach der neuen Rechtslage bis März möglich. 

BSZ: In den ersten drei Wellen wurden viele politischen Entscheidungen von Gerichten gekippt. Ist es verhältnismäßig, ungeimpfte Erwachsene und spätestens ab nächstem Jahr auch Kinder ab zwölf Jahren vom öffentlichen Leben auszuschließen, wenn auch Geimpfte das Virus weitertragen können?
Ratzel: Bei 3G gab es im Eilverfahren keine erfolgreiche Klage, ein Hauptsacheverfahren ist mir nicht bekannt. 3G ist im Gegensatz zu 2G nicht wirklich einschränkend. Auch dass ungeimpfte Arbeitnehmer in Quarantäne keinen Lohn erhalten, ist geltendes Recht. Ob das hält, steht auf einem anderen Blatt. Bei 2G zum Beispiel im Sport gibt es wegen des höheren Aerosolausstoßes sachliche Gründe. Bei 2G an Hochschulen ist die Rechtslage allerdings unübersichtlich. 

BSZ: Welche Sanktionen könnten Ungeimpften bei einer Impfpflicht drohen, und könnten Arbeitgeber Angestellte aus diesem Grund entlassen?
Ratzel: Denkbar sind Bußgelder, wie es sie schon heute für Verstöße gegen die Masernschutzimpfpflicht gibt. Eine Kündigung wegen Verstoßes gegen die Impfpflicht halte ich, jedenfalls nach entsprechender Abmahnung, grundsätzlich für möglich – jedenfalls bei Arbeitsverhältnissen in sensiblen Bereichen.

BSZ: Aktuell sind die Schlangen vor den Teststationen lang, häufig gibt es gar keine freien Termine mehr. Können sich Menschen Geld erstatten lassen, wenn sie zum Beispiel wegen 3G nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder wegen 2G plus nicht mehr ins Fitnessstudio können?
Ratzel: Meines Erachtens nicht, weil sowohl die Verkehrsbetriebe als auch der Fitnessstudioinhaber nicht für die Gesetzgebung verantwortlich sind. Wenn es staatliche Einschränkungen gibt, führt das normalerweise nicht zu Regressansprüchen für Endkunden. Letztlich müssen sich auch all diejenigen, die mangels Impfung häufiger auf diese Angebote zurückgreifen, fragen lassen, warum sie sich nicht bereits im Sommer haben impfen lassen, als es genügend freie Kapazitäten gab.

„Trotz der hohen Impfquote ist kein dauerhafter Impfschutz absehbar“

BSZ: Bayern hat jetzt zum dritten Mal den Katastrophenfall ausgerufen. Ist das gerechtfertigt, wenn die Wissenschaft schon lange die vierte Welle korrekt vorausgesagt hat?
Ratzel: Wie ich es verstanden habe, wurde der Katastrophenfall nicht nur wegen der akuten Notlage ausgerufen, sondern auch, um verwaltungstechnische Abläufe zu moderieren, zum Beispiel die Auslastung der Krankenhäuser besser zu steuern. 

BSZ: Bei jedem Katastrophenfall werden aber auch die Grundrechte eingeschränkt. Ist es nicht möglich, die Krankenhausauslastung ohne Grundrechtseinschränkungen zu steuern?
Ratzel: Ohne Ausrufung des Katastrophenfalls lässt sich weder die Auslastung der Krankenhäuser effektiv steuern, noch die Rekrutierung zusätzlichen Personals erleichtern. Dass dabei auch Grundrechte eingeschränkt werden können, ist der Preis, den die Gesellschaft – vorübergehend – zahlen muss. 

BSZ: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat erst im Oktober die sehr weitgehenden Ausgangsbeschränkungen in Bayern im Frühjahr 2020 für unverhältnismäßig erklärt. Was bringt diese Entscheidung den Bürgerinnen und Bürgern zu so einem späten Zeitpunkt?
Ratzel: Die Eilentscheidungen sind schneller ergangen, ein vorläufiger Rechtsschutz war also gewährleistet. Aber natürlich war das Urteil ein Fingerzeig an die Politik, genauer nachzudenken und differenzierte Vorgaben zu machen. Gerade in Bayern hat man stärker in die Freiheitsrechte reingegrätscht als in anderen Bundesländern. Wenn einzelne Bürger oder Betriebe durch rechtswidrige Normen einen Schaden erleiden, zum Beispiel einen Verdienst- oder Einnahmeausfall, sind Schadensersatzansprüche grundsätzlich denkbar – auch wenn das im Einzelfall schwierig zu beweisen ist. Allerdings ist nach der Entscheidung aus Karlsruhe diese Woche der „Werkzeugkasten“ für die Politik wieder offen.(Interview: David Lohmann)

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