Politik

„Das Bürgergeld kommt“ ist auf der Homepage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zu lesen. Doch die Reform ist längst noch nicht durch. Der Vermittlungsausschuss wurde angerufen. (Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand)

17.11.2022

Bitte nachbessern!

Fatale Signale: Das geplante Bürgergeld der Ampel-Koalition ist in seiner jetzigen Form kaum zu vermitteln

Im Bundesrat ist das umstrittene geplante Bürgergeld am vergangenen Montag vorerst gestoppt worden. Mehrere Länder unter Führung beziehungsweise Regierungsbeteiligung der Union stimmten in der Sondersitzung dagegen. Jetzt soll im Vermittlungsausschuss nachverhandelt werden. Gut so.

Worum geht es? Arbeitslosengeld II und Sozialgeld sollen zum 1. Januar 2023 durch das Bürgergeld ersetzt werden. Berechtigte alleinstehende Erwachsene sollen so künftig 502 Euro statt bisher 449 Euro im Monat erhalten, dazu zahlt der Staat Wohnunterkunft, Rundfunkgebühr sowie Heizkostenzuschuss. Während die Erhöhung des Regelbedarfs weitgehend unstrittig ist, hagelt es Kritik an den weiteren Rahmenbedingungen des Bürgergelds, mit dem die SPD offenbar ihr großes Hartz-IV-Trauma überwinden möchte.

Arbeitgeberverbände, der Bundesrechnungshof, die Union und viele mehr kritisieren vor allem die vorgesehenen Karenzzeiten: In den ersten zwei Jahren werden Vermögen in angemessenem Maß und selbst genutztes Wohneigentum in angemessener Größe nicht berücksichtigt, mit dem Argument, dass sich die Beziehenden so ganz auf die Arbeitssuche konzentrieren können. Angemessen heißt, bis zu 60 000 Euro bei der leistungsberechtigten Person sowie 30 000 Euro pro jeder weiteren Person im Haushalt und bei einer vierköpfigen Familie ein Haus von bis zu 140 Quadratmetern. Es wird vermutlich nicht allzu viele Menschen geben, die so vermögend zu Leistungsempfängern werden. Allerdings kann man wie auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) schon die Frage stellen, wieso es keinerlei Unterscheidung gibt zwischen Leuten, die noch nie gearbeitet haben, und anderen, die nach jahrzehntelanger Plackerei unverschuldet in die Arbeitslosigkeit gerutscht sind. Warum erstere überhaupt nichts beitragen müssen, ist schwer nachvollziehbar. Da die Antragstellenden ihr Vermögen nur angeben, aber nicht dokumentieren müssen, gibt es hier auch ein Einfallstor für einen möglichen Missbrauch.

Keine Sanktionen vorgesehen

Zudem sind – anders als jetzt – in den ersten sechs Monaten keine Sanktionen vorgesehen, falls jemand keine Lust hat, eine Arbeit oder eine Fortbildung anzunehmen. Selbst wenn die Sanktionierung gar nicht so effektiv ist – da streiten sich die Gelehrten –, für die Außenwirkung ist sie elementar. Es wäre fatal in Zeiten des Fachkräftemangels, ein Zeichen zu setzen, dass man gar nicht zu arbeiten braucht, um in Deutschland über die Runden zu kommen. Und wer hart dafür schuftet, sich und seine Familie durch diese Krisenzeit zu bringen, braucht ebenfalls ein Signal aus der Politik, dass sich Arbeit weiter lohnt.

Wie wichtig dieses Signal ist, zeigen drei Beispiele. Erstens: Ein in Vollzeit arbeitender alleinstehender Friseur mit Mindestlohngehalt verdient im Monat netto 1494 Euro. Davon muss er seinen Lebensunterhalt bestreiten, Miete zahlen und die Energiekosten. Angenommen, er zahlt 700 Euro Miete, 300 Euro für Strom und Heizen sowie 18,36 Euro Rundfunkgebühr, bleiben ihm noch rund 476 Euro für Lebensmittel und Mobilität. Würde er Bürgergeld erhalten, bekäme er 502 Euro. Dazu zahlt das Jobcenter Miete sowie Heizkosten. Abzüglich der Kosten für den Strom hätte er noch 402 Euro. Das ist natürlich nicht viel, aber es sind nur 74 Euro weniger, als wenn er als Friseur arbeiten würde. 

Zweites Beispiel: ein verheirateter Busfahrer, dessen Frau nicht berufstätig ist. Mit 2600 Euro brutto beträgt das Haushaltseinkommen im Monat 2022 Euro netto. Abzüglich 1000 Euro Miete, 400 Euro für Energie und Rundfunkgebühr bleiben etwa 604 Euro für alles andere. Würden Mann und Frau Bürgergeld beziehen, hätten sie nach Abzug der angenommenen Stromkosten 752 Euro zur Verfügung, also 148 Euro mehr, als wenn der Mann arbeiten würde.

Drittes Beispiel: ein Ehepaar, bei dem sie als Krankenschwester arbeitet und er die zwei kleinen Kinder betreut. Sie verdient 3000 Euro brutto, 2280 Euro bleiben netto. Dazu kommen 500 Euro Kindergeld. Abgezogen werden 1300 Euro für die Miete, 550 Euro für Energie und Rundfunkgebühr – übrig bleiben 912 Euro. Die Familie würde 1538 Euro Bürgergeld erhalten, abzüglich 200 Euro Strom blieben also 1338 Euro – 426 Euro mehr als bei einer Erwerbstätigkeit.

Arbeitende haben aber Anspruch auf etliche weitere Leistungen

Was in diesen modellhaften Beispielen nicht berücksichtigt ist, sind Leistungen, die Geringverdienende im Gegensatz zu Bezieher*innen des Bürgergelds in Anspruch nehmen können. Dazu gehören Wohngeld, das die Bundesregierung ab dem kommenden Jahr für einen deutlich größeren Teil der Bevölkerung anbieten will, der Kinderzuschlag sowie – bei Alleinerziehenden – ein Unterhaltsvorschuss. Außerdem gibt es für Geringverdienende einen Steuerfreibetrag, der ab dem kommenden Jahr erheblich angehoben wird. Insgesamt könnten in den Haushalten so einige 100 Euro mehr pro Monat verbleiben und Arbeitende doch mehr Geld bekommen. Was man auch berücksichtigen muss: Wer arbeitet, zahlt Geld in die Rentenversicherung ein und erhöht so seinen Rentenanspruch, Bürgergeld-Beziehende nicht.

Viele weitere Modellrechnungen zum Bürgergeld sind im Umlauf, die keinerlei Hinweis auf diese möglichen Zusatzleistungen für Geringverdienende enthalten. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft nahm jetzt nach etlicher Kritik seine Tabelle von der Internetseite, mit dem Versprechen, bald eine um die Hinweise ergänzte Version zu veröffentlichen. Doch längst ist die Tabelle in vielen Medien verbreitet worden.

Die Verunsicherung ist groß. Die Ampel-Koalition muss sich ankreiden lassen, lange nur verschnupft auf Kritik reagiert und es versäumt zu haben, Widersprüche aufzuklären. Zumindest haben SPD und FDP jetzt Gesprächsbereitschaft signalisiert. Dann könnte die Reform in vernünftigerer Form doch bald verabschiedet werden – und so rechtzeitig, dass der erhöhte Regelsatz wie vorgesehen ausgezahlt werden kann. (Thorsten Stark)
 

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